Vermisst: Thriller (German Edition)
nicht?«
Endlich saß er am Steuer. »Das ist eine Suggestivfrage. Steig schon ein. Bitte.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss los.«
»Du denkst wohl, ich will nur eine Reise nach London spendiert bekommen?«, fragte PJ frech. »Stimmt genau.«
Jesse musste lachen. »Einen Versuch war’s wert.«
PJ verschränkte die Arme. »Du hast das mit dem Job vergessen, stimmt’s?«
Jesse ließ die Schultern sinken und schloss die Augen.
»Und deswegen soll ich jetzt mitfahren?«
»Es tut mir echt leid. Bei mir war einfach der Teufel los, deswegen habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich rufe Lavonne heute noch an und regle das.«
»Okay.« PJ trat zu ihm. »Aber überleg doch mal, du kannst noch nicht mal allein in ein Flugzeug steigen.«
»Das geht schon. Es ist nur lästig, und genau deswegen muss ich jetzt los.«
»Verstehe.« PJ legte die Hände auf die Tür, damit Jesse sie nicht schließen konnte. »Ich weiß ja nicht, was passiert ist, aber wenn Evan sauer auf dich ist, brauchst du jede Unterstützung, die du kriegen kannst.«
»Von dir?«
»Weißt du überhaupt, wie es in London zugeht? Die fahren mit der U-Bahn und haben Doppeldeckerbusse. Hast du Bube, Dame, König, Gras nicht gesehen? Die Gehwege sind holprig, und alle Häuser sind uralt und haben ganz schmale Treppen. Außerdem regnet es ständig. Und Geduld ist nicht gerade deine Stärke, vor allem, wenn dir was unter den Nägeln brennt. Wenn du also einem Taxifahrer eine verpasst, weil er dich nicht einsteigen lässt, verbringst du die nächsten Tage auf einer Polizeistation, während dein Notfall den Bach runtergeht.«
Jesses Gesicht brannte.
»Du schaust doch jetzt schon ununterbrochen auf die Uhr. Ich wette, da drüben stehst du noch mehr unter Zeitdruck. Jetzt ist Schnelligkeit gefragt, und dafür brauchst du mich.«
Jesse hatte fast vergessen, dass PJ in nüchternem Zustand ein ziemlich cleverer Bursche war. Einen Augenblick lang musterte er ihn nachdenklich. In der Ferne kreischten die Möwen über der weiß schäumenden Brandung.
»Kannst du in zehn Minuten packen?«, fragte er.
Ein Schluck, ein einziger Tropfen Wasser, ein wenig Feuchtigkeit auf seiner Zunge – das war alles. Phil beugte sich über die winzige Pfütze in der Ecke des Containers. Das Wasser drang in seine rissige Haut und benetzte seinen Gaumen. Die dickflüssige Brühe schmeckte nach Rost und Erde. Wie das Wasser in dem roten Teich, in den der Bach auf der Weide seines Großvaters in der Prärie von Oklahoma mündete. Die Sonne hatte ihnen auf den Rücken gebrannt, wenn er mit seinen Brüdern in dem schlammigen Wasser schwimmen ging. Fast konnte er den Wind im hohen Gras und das Singen der Zikaden in den Bäumen hören.
Er rollte sich herum und ließ sich gegen die Wellblechwand des Containers sinken. Kein gutes Zeichen, wenn sein bisheriges Leben an ihm vorüberzog.
Zeit für eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Er hatte nichts zu essen. Das Kerngehäuse war verzehrt, und trotz des Schimmelgeschmacks hatte er die letzten Schokoladenreste von den Verpackungen geleckt. In einer alten Kiste hatte er Orangenschalen gefunden, die er ebenfalls verputzt hatte. Eine leere Tüte Kartoffelchips hatte zumindest noch ein wenig Salz hergegeben, aber jetzt war endgültig Schluss. Beim Wasser war er auf das Wenige angewiesen, was durch die durchgerostete Stelle oben am Container sickerte. Soweit er das beurteilen konnte, hatte es in den vergangenen vierundzwanzig Stunden nicht geregnet. Die kleine Pfütze war zu einem nassen Fleck geschrumpft und würde sich nicht wieder füllen.
Das Licht fiel von links durch den Spalt zwischen den Containertüren. Es musste früh am Morgen sein. Auf den Besenstiel gestützt, schleppte er sich erneut hinüber und legte das Ohr ans Metall. Stundenlang hatte er mit Fäusten und Füßen dagegengehämmert und geschrien, bis er heiser war. Doch nichts tat sich. Das hieß, der Container stand weit hinten unter Hunderten, vielleicht Tausenden anderen an einem riesigen Kai, und niemand würde ihn hören. Vermutlich befand er sich in Los Angeles, Long Beach oder Oakland.
Einmal war während der Nacht ein Wachmann vorbeigekommen. Er hatte einen Hund bellen hören. Doch obwohl er mit dem Fuß gegen die Tür trat und aus Leibeskräften brüllte, hatte er sich nicht bemerkbar machen können. Im Hafen wurde auch nachts gearbeitet. Die Kräne, die die Fracht verluden, die Nebelhörner der Schiffe hatten seine Stimme übertönt.
Er spähte auf die Uhr und
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