Vermisst: Thriller (German Edition)
keine Lust, mit dem kompletten Besteck den Zoll zu passieren.«
»Ich hab mein eigenes Besteck, du dumme Kuh. Der Arzt verschreibt mir die Spritzen für mein EPO.« Er setzte sich auf die Couch und rieb sich die Beine.
»Was ist denn bloß los mit dir?«, fragte sie.
Er schnappte sich den Beutel, riss ihn auf und schluckte eine Handvoll Pillen. »Holen wir uns das Mädchen. Einer von uns hat nicht mehr lange zu leben, und das bin nicht ich.«
27. Kapitel
»Kit, aufwachen.«
Eine Hand rüttelte mich an der Schulter. Nur langsam dämmerte ich hoch. Wir waren mitten in London. Belebte Straßen, schwarze Taxis und Motorradkuriere. Wie in Bangkok fuhren alle auf der falschen Straßenseite. Weiß verputzte Gebäude strahlten im kalten Sonnenlicht. Auf den Gehwegen drängten sich dick eingepackte Menschen, allesamt in Eile, allesamt mit ihren Handys beschäftigt. Mein Nacken war völlig steif. Verstohlen wischte ich mir den Speichel aus dem Mundwinkel. Mit meiner farbenfrohen, sommerlichen thailändischen Kleidung hob ich mich deutlich von meiner Umgebung ab. Endlich gelangten wir in ein ruhigeres Viertel. Ich wickelte mich fester in meine Jacke.
Das Taxi stoppte vor einem viktorianischen Gebäude in einer schmalen Straße ohne Durchgangsverkehr. Wir befanden uns in Kensington, dem Viertel der Herrenhäuser und anmutigen anglikanischen Kirchen. Das Sträßchen war von eleganten Reihenhäusern gesäumt, die sich vermutlich nur Popstars und Investmentbanker leisten konnten. Üppige Glyzinien rankten sich um Fenster und Türen.
Die Schule dagegen wirkte wie eine Fabrik aus dem 19. Jahrhundert: rote Ziegelsteine, Giebelfester, schmiedeeiserne Gitter. Das Gebäude duckte sich hinter eine schmuddlige alte Mauer, die von Stacheldraht gekrönt wurde.
»Warten Sie hier«, wies Jax den Fahrer an.
Wir marschierten durch einen Torbogen an abgestellten Fahrrädern vorbei und erklommen die abgetretenen Steinstufen zur Tür der St. Mary Mazzarello Salesian School.
Über der Tür war eine Überwachungskamera angebracht. Der Gang dahinter war so kalt und feucht, dass ich die Arme verschränkte, um mich vor der Zugluft zu schützen. Die hohen Decken waren mit Stuck abgesetzt, und fleckige Kronleuchter verbreiteten ein schwaches Licht. Aber an den Wänden waren mit Reißzwecken bunte Wasserfarbenbilder befestigt, und die Misstöne in den Tiefen des Gebäudes konnten nur von der Probe eines Schulorchesters stammen. Auf einem Sockel zu meiner Rechten erhob sich eine Gipsstatue von Don Bosco, dem Gründer des Salesianer-Ordens. Links von uns stand eine goldgekrönte Madonna mit Kind.
»Maria Auxiliadora«, stellte ich fest.
»Die Salesianer verehren die hilfreiche Mutter Gottes.«
Gemeinsam gingen wir zum Sekretariat.
»Mein Name ist Jakarta Rivera. Ich bin die Mutter von Georgia und möchte gern die Direktorin sprechen. Schwester Cillian erwartet mich.«
Die Sekretärin warf einen verstohlenen Blick auf Jax’ demoliertes Gesicht und griff zum Telefon. Jax ließ sich vorsichtig und stocksteif auf einen Stuhl sinken, wobei sie die linke Hand mit der rechten schützte und sich sichtlich bemühte, alle Türen im Auge zu behalten. Ihre Pupillen waren immer noch verschieden groß.
Auf dem kleinen asphaltierten Schulhof genossen Mädchen ihre Pause, spielten Seilhüpfen und Fangen oder standen einfach in kleinen Grüppchen an der bemoosten Wand. Von der Straße aus war der Schulhof nicht einsehbar, und zwei weitere Überwachungskameras sorgten für zusätzliche Sicherheit.
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich.
»Vor zehn Wochen, in den Ferien.«
Eine Tür öffnete sich. »Mrs. Rivera, bitte«, sagte eine stämmige Nonne im blauen Kostüm, deren graues Haar unter der kurzen Kopfbedeckung wirkte, als hätte man ihr zum Schneiden einen Topf aufgesetzt. An einer Kette um ihren Hals hing ein schweres Kreuz.
»Warte hier«, sagte Jax zu mir.
Ich hatte den Eindruck, dass nur ihre Willenskraft sie aufrecht hielt, als sie mit ausgestreckter Hand auf die Nonne zuging.
Die Direktorin starrte sie entsetzt an. »Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?«
»Ein Autounfall.« Sie fasste sich an die Wange und folgte der Nonne ins Büro. »Im Grunde bin ich mit dem Schrecken davongekommen. Trotzdem nehme ich mir ein paar Wochen frei, damit Georgia weiß, dass es mir gut geht.« Damit schloss sie die Tür hinter sich.
Die Mädchen im Schulhof trugen braune Röcke und Jacken, kombiniert mit weißen Blusen
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