Verneig dich vor dem Tod
Schweigen. Er konnte aus Aldhere nicht klug werden. Er entsprach so gar nicht dem Bild des Geächteten aus dem Moorland, das Cild gezeichnet hatte, wenn auch sein Äußeres zu Eadulfs Vorstellung von einem Räuber paßte. Aldhere war ein Mann von angenehmen Umgangsformen, gebildet und mit der ruhigenAutorität, wie sie eher ein Than, ein niederer Adliger, als ein Geächteter besaß. Eadulf drängten sich viele Fragen auf, doch er beschloß, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Wie Fidelma gern sagte, es sind die Geduldigen, die zum Ziel gelangen.
Sie ritten parallel zur Küste nach Norden, hielten sich aber im Schutz der Wälder, die dort, wo sie von der ätzenden Salzluft des Meeres nicht berührt wurden, dicht wuchsen. Eadulf begann die Gegend zu erkennen und empfand leichtes Heimweh bei dem Gedanken, daß sie nicht mehr weit von seinem Geburtsort entfernt waren.
Drüben zu ihrer Rechten endete das Land in Sanddünen und Kieselstrand, zu ihrer Linken lag ein Gebiet mit kleinen Lagunen, Süßwasser-Schilfmoor, Wald und Heide. Als sie einen dichten, scheinbar undurchdringlichen Gürtel von Espen, Birken und Eichen durchquert hatten, kamen sie plötzlich auf eine Lichtung mit einfachen Hütten, zwischen denen sich Menschen bewegten, Männer, Frauen und sogar Kinder.
»Willkommen in meinem Lager«, lächelte Aldhere, zügelte sein Pferd und stieg ab.
Eadulf folgte seinem Beispiel, und der Geächtete führte ihn zu einer der Hütten. Ehe sie sie noch erreicht hatten, öffnete sich ihre Tür, eine Frau trat heraus und begrüßte Aldhere. Sie war schlank, und blondes Haar lugte unter dem Kopftuch hervor, das ihr Gesicht großenteils verhüllte. Als sie Eadulf erblickte, blieb sie jäh stehen.
»Wer ist das? Ein Gefangener? Einer von Cilds Leuten?« fragte sie unfreundlich. Sie sprach Sächsisch mit einem fremden Akzent, den Eadulf zunächst nicht deuten konnte.
Aldhere schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, mein Schatz, das ist ein Gast. Das ist meine Frau Bertha, und dies ist Bruder Eadulf, Bertha. Nun bring uns Met und warme Suppe und laß uns in Ruhe miteinander reden.«
Bertha schnaubte verächtlich, verschwand aber wieder in der Hütte. Aldhere und Eadulf folgten ihr. Das Innere der Hütte bildete einen einzigen Raum, der gerade Platz für ein Bett, einen Tisch und ein paar Schemel bot. Aldhere winkte Eadulf, sich zu setzen, und ließ sich ihm gegenüber nieder. Bertha stellte einen Krug Met auf den Tisch. Dabei bemerkte Eadulf eine Narbe an ihrem Arm, die sich vom Handgelenk nach oben zog. Die Suppe war schon fertig, und gleich darauf standen auch Schüsseln mit dampfendem Gemüse und frischem, warmem Brot vor ihnen. Dann marschierte Bertha aus der Hütte, sichtlich verärgert, daß sie vom Gespräch ausgeschlossen war.
»Bertha? Das ist doch ein fränkischer Name«, meinte Eadulf, als sie allein waren.
Aldhere nickte nachdenklich. »Ich befreite sie von einem fränkischen Sklavenhändler, der sie an die Ost-Sachsen verkaufen wollte. Die Sklavenhändler haben sie nicht gut behandelt. Ich habe gesehen, daß dir die Narbe an ihrem Arm aufgefallen ist. Sie hat noch weitere Narben, deshalb bedeckt sie vor Fremden gern ihr Gesicht. Sie hat es vorgezogen, bei mir zu bleiben.«
Eadulf nickte mitfühlend. »Dieser Sklavenhandel ist ein übles Geschäft, und ich hoffe, daß er einmal ganz verboten wird. Aber sag mir, warum wollten die Ost-Sachsen mich töten? Als ich jung war, traten sie nie so gewalttätig auf.«
Aldhere schenkte ihnen Met ein.
»Das kommt alles von König Sigehere, der zur Anbetung der Götter seiner Vorfahren zurückgekehrt ist. Er hat sämtlichen Christen den Krieg erklärt.«
»Ich dachte, er hätte vollauf damit zu tun, gegen sein eigenes Volk zu kämpfen. Warum sendet er Männer aus, die in unser Land einfallen?«
»Sigehere ist ehrgeizig, ganz gleich, welcher Religion er gerade anhängt. Das Königreich der Ost-Sachsen genügt ihm nicht, deshalb schickt er Krieger aus, die die Stärken und Schwächen seiner Nachbarländer herausfinden sollen. Es hat mehrere Überfälle bei uns gegeben – einen hast du eben miterlebt. Ein christlicher Mönch wäre für Sigeheres Krieger ein guter Fang gewesen. Sie hätten sich einen besonderen Spaß mit dir gemacht.«
Eadulf erschauerte bei dem Gedanken und langte nach seinem Becher Met.
»Warum gingen sie gerade an dieser Stelle an Land? Hier in der Nähe gibt es doch keine wesentlichen Ansiedlungen außer Aldreds Abtei.«
Aldhere rieb sich das Kinn
Weitere Kostenlose Bücher