Veronica beschließt zu sterben
bemerkt, daß dort
neben einigen körperlosen Geistern auch viele Menschen
herumirrten, die genauso lebendig waren wie sie und entweder die Technik beherrschten, aus dem Körper herauszutreten, oder das alles völlig unbewußt erlebten, weil sie an
einem anderen Ort der Welt tief schliefen, während ihr Geist
frei durch die Welt wanderte.
Zedka wußte, daß dies ihre letzte insulininduzierte
Astralreise sein sollte, denn sie hatte soeben Dr. Igor in seinem
Büro besucht und gehört, daß er sie schon bald entlassen
würde. Darum wollte sie heute dieses eine Mal ausschließlich in Villete umherstreifen. Von dem Augenblick
an, in dem sie das Anstaltstor durchschritt, würde sie nie
wieder hierher zurückkehren, auch nicht im Geist, und sie
wollte sich jetzt verabschieden.
Sich verabschieden. Das war der schwierigste Teil: In einer
psychiatrischen Anstalt gewöhnte man sich an die Freiheit,
die es in einer Welt der Verrückten gab, und wurde süchtig
danach. Man war für nichts verantwortlich, mußte nicht ums
tägliche Brot kämpfen, sich mit öden Routineangelegenheiten herumplagen, konnte stundenlang ein Bild
anschauen oder sich in absurden Kritzeleien verlieren. Alles
war erlaubt, denn schließlich war man geisteskrank. Sie
hatte selbst gesehen, daß die meisten Insassen sich besser
fühlten, sobald sie die Anstalt betraten: Man mußte seine
Symptome nicht mehr verbergen, und die >familiäre< Umgebung half einem, die eigenen Neurosen und Psychosen zu
akzeptieren.
Anfangs war Zedka von Villete fasziniert gewesen und
hatte schon erwogen, nach ihrer Genesung der >Bruderschaft< beizutreten. Doch dann begriff sie, daß sie, wenn sie es
klug anstellte, auch draußen alles tun konnte, was sie wollte,
während sie sich den Herausforderungen des Alltags stellte.
Man brauchte nur, wie es jemand einmal gesagt hatte, eine
kontrollierte Verrücktheit< beizubehalten. Weinen, sich
sorgen, sich ärgern wie jeder andere Mensch auch, dabei aber
nie vergessen, daß dort oben unser Geist über alle
schwierigen Situationen lacht.
Bald schon würde sie wieder nach Hause zurückkehren,
zu ihren Kindern, ihrem Mann. Dieser Teil des Lebens hatte
auch seinen Reiz. Natürlich würde sie Schwierigkeiten haben, eine Arbeit zu finden, denn in einer kleinen Stadt wie
Ljubljana sprach sich alles schnell herum, und viele wußten
schon, daß sie in Villete eingeliefert worden war. Doch ihr
Mann verdiente genug, um die Familie zu ernähren, und sie
konnte in ihrer freien Zeit weiterhin ihre Astralreisen machen - ohne den gefährlichen Einfluß des Insulins.
Nur eines wollte sie nicht noch einmal erleben: das, was
sie nach Villete gebracht hatte.
Die Depressionen.
Die Ärzte sagten immer, daß eine erst kürzlich isolierte
Substanz, das Serotonin, die Stimmungen regulierte. Ein
Mangel an Serotonin beeinflusse die Konzentrationsfähigkeit
bei der Arbeit, habe Auswirkungen auf den Schlaf, den
Appetit, die Fähigkeit, sich am Leben zu freuen. Fehlte es
vollkommen, sei der Mensch von Verzweiflung, Pessimismus, vom Gefühl, zu nichts nütze zu sein, von übermäßiger Müdigkeit, Beklemmungen, Entscheidungsschwierigkeiten erfüllt und am Ende in eine ständige Traurigkeit
getaucht, die zu vollkommener Apathie oder zum Selbstmord führe.
Andere, konservativere Ärzte behaupteten, daß drastische
Veränderungen im Leben eines Menschen wie der Tod der
Eltern oder eines anderen geliebten Wesens, Scheidung und
eine Steigerung der Anforderungen bei der Arbeit oder
innerhalb der Familie für die Depression verantwortlich
seien. Einige moderne Untersuchungen, die auf der Anzahl
der Einweisungen im Winter und im Sommer basierten,
wiesen auf den Mangel an Sonnenlicht als einen Verursacher
von Depression hin.
In Zedkas Fall war der Grund viel einfacher, als alle dachten: ein Mann aus ihrer Vergangenheit. Oder besser gesagt:
Illusionen, die sie um einen Mann herum rankte, den sie vor
langer Zeit kennengelernt hatte.
So etwas Dummes. Depression, Verrücktheit, alles wegen
eines Mannes, von dem sie nicht einmal wußte, wo er
wohnte und in den sie sich in ihrer Jugend hoffnungslos
verliebt hatte. Denn Zedka hatte wie viele andere Mädchen
ihres Alters die Erfahrung der unerfüllten Liebe machen
müssen.
Nur anders als ihre Freundinnen, die von ihrem unerreichbaren Liebsten nur träumten, hatte Zedka beschlossen,
weiterzugehen: Sie würde versuchen, ihn zu erobern. Er
wohnte auf der anderen Seite des Ozeans, sie hatte alles
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