Veronica beschließt zu sterben
gewartet
hatte, daß Veronika wieder ans Klavier ging: eine Rose anschauen. Mehr nicht.
Dennoch saßen jetzt diese Leute, nachdem sie die Erfahrung tiefster Meditation gemacht hatten, nachdem sie den
Visionen des Paradieses so nahe gewesen waren, da und
stritten, diskutierten, kritisierten, stellten Theorien auf.
Seine Blicke kreuzten die von Mari. Sie mied ihn, doch
Eduard war entschlossen, dieser Situation ein für allemal ein
Ende zu bereiten. Er ging zu ihr und packte sie am Arm.
»Lass das, Eduard!«
Er hätte sagen können: >Komm mit mir!< Doch nicht vor
all den Leuten, denn die hätten sich bestimmt über seine
feste Stimme gewundert. Lieber kniete er vor ihr nieder und
blickte sie einfach flehend an.
Alle lachten.
»Du bist eine Heilige für ihn geworden, Mari«, meinte
jemand. »Das war die Meditation von gestern.«
Doch das jahrelange Schweigen hatte Eduard gelehrt, mit
den Blicken zu sprechen. Er konnte seine ganze Energie in
sie hineinlegen. Daher war er auch sicher, daß Veronika
seine Zärtlichkeit und seine Liebe verstanden hatte. Er
wußte, daß Mari seine Verzweiflung verstehen würde und
warum er sie so sehr brauchte.
Sie zögerte noch ein wenig. Endlich stand sie auf und
nahm ihn bei der Hand.
»Laß uns einen Spaziergang machen«, sagte sie. »Du bist
ja ganz aufgeregt.«
Zusammen gingen sie in den Garten hinaus. Kaum waren
sie außer Hörweite, fing Eduard zu sprechen an.
»Ich bin nun schon jahrelang hier in Villete. Ich habe aufgehört, meine Eltern zu blamieren, habe meine Ambitionen
aufgegeben, doch die Visionen des Paradieses sind geblieben.«
»Das weiß ich«, sagte Mari. »Wir haben schon häufig darüber geredet. Und ich weiß auch, worauf du hinauswillst:
Es ist Zeit für dich zu gehen.«
Eduard blickte in den Himmel. Sollte sie das gleiche
fühlen?
»Und es ist wegen der jungen Frau«, fuhr Mari fort. »Wir
haben schon viele Menschen hier drinnen sterben sehen,
immer dann, wenn sie es am wenigsten erwarteten, und im
allgemeinen dann, wenn sie das Leben aufgegeben hatten.
Doch dieses Mal passiert es zum ersten Mal mit einem jungen,
hübschen, gesunden Mädchen, das noch so viel vor sich hat.
Veronika ist die einzige, die nicht immer in Villete bleiben
wollte. Und das läßt uns die Frage stellen: Wie sieht es mit
uns aus? Was suchen wir hier?«
Er nickte.
»Gestern abend habe ich mich das auch gefragt. Und ich
kam zum Schluß, daß es viel interessanter wäre, auf dem
Platz zu sein, auf den Drei Brücken, auf dem Markt vor dem
Theater Äpfel zu kaufen und über das Wetter zu reden.
Natürlich würde ich mich mit längst vergessenen Dingen
herumschlagen müssen, wie Rechnungen bezahlen, Nachbarn beschwichtigen, den ironischen Blick der Leute aushalten, die mich nicht verstehen, die Einsamkeit, die Klagen
meiner Kinder. Doch ich denke, daß dies alles zum Leben
gehört und daß der Preis, sich mit diesen kleinen Problemen
auseinandersetzen zu müssen, viel geringer ist als der Preis,
sie nicht als die unsrigen anzuerkennen.
Ich gedenke heute zu meinem Ex-Mann zu gehen, nur
um ihm danke zu sagen. Was hältst du davon?«
»Nichts. Muß ich auch zu meinen Eltern gehen?«
»Möglicherweise. Im Grunde liegt die Schuld an allem,
was in unserem Leben geschieht, bei uns. Viele Menschen
haben die gleichen Schwierigkeiten durchgemacht wie wir,
doch sie haben anders reagiert. Wir haben den einfachsten
Weg gewählt: eine abgetrennte Realität.«
Eduard wußte, daß Mari recht hatte.
»Ich möchte noch einmal anfangen zu leben, Eduard.
Möchte die Fehler begehen, die ich immer schon machen
wollte, aber aus Feigheit nie begangen habe. Mich der Panik
stellen, die wiederkommen kann, doch mich nur müde
macht, denn ich werde ihretwegen weder sterben noch das
Bewußtsein verlieren, das weiß ich genau. Ich kann neue
Freunde finden und ihnen beibringen, verrückt zu sein, damit
sie weise werden. Ich werde ihnen sagen, daß sie nicht die
Anstandsregeln befolgen, sondern ihr eigenes Leben,
Wünsche, Abenteuer entdecken und LEBEN sollen! Ich werde
für die Katholiken aus den Sprüchen des Predigers Salomo
zitieren, für die Moslems aus dem Koran, für die Juden aus
der Thora, für die Atheisten aus den Texten des Aristoteles.
Ich will nie wieder Anwältin sein, doch ich kann meine
Erfahrung nutzen und Vorträge über Menschen halten, die
die Wahrheit dieses Lebens kennengelernt haben und deren
Schriften in einem einzigen Wort zusammengefaßt werden
können:
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