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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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man
ihm vorsetzte, und ging zum Pflichtspaziergang hinaus in
den Garten. Während des »Sonnenbades« (auch heute wieder bei unter null Grad) versuchte er sich Mari zu nähern.
Doch sie sah aus, als wollte sie allein sein. Sie brauchte
nichts zu sagen, denn Eduard kannte die Einsamkeit gut genug, um zu wissen, wann man sie bei anderen respektieren
mußte.
    Ein neuer Insasse kam zu Eduard. Er kannte die Leute
wohl noch nicht.
»Gott hat die Menschheit gestraft«, sagte er. »Und er hat
sie mit der Seuche bestraft. Doch ich habe Ihn in meinen
Träumen gesehen. Er hat mir aufgetragen, Slowenien zu retten.«
    Eduard entfernte sich, während der Mann brüllte:
»Glaubst du, ich bin verrückt? Dann lies die Evangelien!
Gott hat Seinen Sohn gesandt, und Sein Sohn kommt jetzt
zurück!«
Doch Eduard hörte ihn nicht mehr. Er blickte auf die
Berge draußen und fragte sich, was mit ihm bloß los war.
Warum verspürte er den Wunsch, hier herauszukommen,
wo er doch hier endlich den Frieden gefunden hatte, den er
so sehr suchte? Warum sollte er seine Eltern erneut der
Gefahr aussetzen, sich zu blamieren, wo doch die Familienprobleme gerade gelöst waren? Er wurde unruhig, ging auf
und ab, während er darauf wartete, daß Mari aus ihrem
Schweigen heraustrat und sie miteinander reden konnten.
Doch sie wirkte abwesender denn je.
    Er wußte, wie man aus Villete fliehen konnte. Auch wenn
die Sicherheitsvorkehrungen sehr streng zu sein schienen,
gab es doch viele Mängel. Schlicht und einfach deswegen,
weil die Leute, wenn sie einmal hier drinnen waren, nur wenig
Lust hatten, wieder herauszukommen. Es gab nach Osten
hin eine Mauer, über die man ohne größere Schwierigkeiten
klettern konnte, weil sie an vielen Stellen beschädigt war.
Hatte man sie überwunden, stand man auf freiem Feld, und
fünf Minuten später befand man sich auf der Straße, die
nach Osten, nach Kroatien, führte. Der Krieg war zu Ende,
die Brüder waren wieder Brüder, die Grenzen nicht mehr
so scharf bewacht. Mit ein bißchen Glück konnte man in
sechs Stunden in Zagreb sein.
    Eduard war schon mehrfach auf dieser Straße gewesen,
hatte jedoch jedesmal beschlossen umzukehren, weil er
noch nicht das Zeichen bekommen hatte voranzuschreiten.
Jetzt war alles anders: Das Zeichen war in Gestalt einer jungen
Frau mit grünen Augen, braunem Haar und der entschlossenen Miene eines Menschen erschienen, der zu wissen
meint, was er will.
    Eduard überlegte, ob er sich direkt zur Mauer begeben,
hinausgehen und aus Slowenien verschwinden sollte. Doch
das Mädchen schlief, und er mußte sich wenigstens von ihr
verabschieden.
Als sich nach dem »Sonnenbad« die Bruderschaft im Aufenthaltsraum versammelte, gesellte sich Eduard zu ihnen.
    »Was will denn dieser Verrückte hier?« fragte der Älteste
der Gruppe.
»Laß ihn«, sagte Mari. »Wir sind doch auch verrückt.« Alle
lachten, und sie begannen, sich über den gestrigen Vortrag
zu unterhalten. Die Frage war, ob die Sufi-Medita-tion
tatsächlich die Welt verändern könne. Es wurden Theorien, Art und Weise der Anwendung, gegenteilige Ideen,
Kritik am Vortragenden, Vorschläge vorgebracht, wie zu
verbessern wäre, was seit Jahrhunderten probiert worden
war.
    Eduard hatte diese Art von Diskussionen satt. Die Leute
schlössen sich in einer Irrenanstalt ein und verbrachten die
Zeit damit, die Welt zu retten, ohne irgendein Risiko einzugehen, denn sie wußten, daß die Leute draußen sie lächerlich
nennen würden, auch wenn sie ganz konkrete Ideen hatten.
Jeder einzelne hatte seine spezielle Theorie zu allem und
glaubte, seine Wahrheit sei die einzig wichtige. Sie verbrachten Tage, Nächte, Wochen und Jahre mit Reden, ohne je
die einzige Realität anzunehmen, die es hinter jeder Idee gibt:
Sei sie nun gut oder schlecht, es gibt sie erst, wenn jemand sie
in die Tat umsetzt.
    Was war nun Sufi-Meditation? Was war Gott? Was war
die Erlösung, und mußte die Welt überhaupt erlöst werden?
Nein. Wenn alle hier und dort draußen ihr Leben leben
würden und die anderen das gleiche täten, wäre Gott in jedem
Augenblick, in jedem Senfkorn, im Wolkenfetzen, der
entsteht und sich im nächsten Augenblick wieder auflöst.
Gott war dort, und dennoch glaubten die Menschen, daß sie
immer weiter suchen mußten, weil es zu einfach erschien zu
akzeptieren, daß das Leben ein Akt des Glaubens war.
    Er erinnerte sich an die unspektakuläre, einfache Übung,
die der Sufi-Meister gelehrt hatte, als er darauf

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