Verräterherz (German Edition)
weicht. Aber ich frage dich, warum sollte ich eine solche Gestalt annehmen wollen? Gerippe und Totenschädel sind eure Überreste. Ich bin sehr viel mehr als das, und ich kann dafür sorgen, dass jeder einzelne von euch ebenfalls mehr wird, als verrottende Knochen.“
Das klang nicht uninteressant, wie ich zugeben musste. Vor allem nicht in meiner damaligen Lage, denn zweifellos würde mein Körper bald ein solch verrottender Knochenhaufen sein. Paris war eine Stadt, die noch wesentlich mehr Ratten als Menschen beherbergte, und diese fleißigen, aber überaus widerwärtigen Tiere, sorgten mit Vorliebe dafür, dass Leichen alsbald blitzblank abgenagt waren. Vor allem, wenn sie so wie ich, von Menschen unbemerkt in einer Wohnung lagen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass meine Eltern die Stadt bereits erreicht hatten und mich nur wenig später auffinden würden. Ebenso gut hätten sie erst Tage später zurückkehren können, aber auch das machte natürlich keinen Unterschied. Ob die Ratten mich in meinem Bett auffraßen, oder die Würmer in der Erde, war mir ziemlich gleich. Aber mehr werden zu können als eben das, war eine Option, die mir gefiel.
„ Was für Möglichkeiten habe ich denn?“, fragte ich interessiert. Abermals schwieg das Mädchen lange. Ich hing so meinen Gedanken nach, die ich immer noch mein eigen nennen durfte, obwohl mein Gehirn nicht mehr funktionierte. Plötzlich musste ich lachen. Ich spürte den fragenden Blick des Mädchens auf mir ruhen.
„ Sprich es aus!“, forderte es.
Immer noch über die Maßen erheitert, sagte ich: „Du bist der Sensenmann. Gevatter Tod. Aber du bist …“, ich lachte erneut.
„ Ein Mädchen“, beendete es meinen Satz ziemlich genervt. Ich riss mich zusammen.
„ Nun, wie ich schon sagte, ziehe ich eine andere Gestalt, als die eines Gerippes vor. Meist bin ich sogar lieber gestaltlos. Doch manchmal ist es notwendig, eine anzunehmen. Diese hier mag ich besonders. Es ist die eines Kindes, das ich leider viel zu früh holen musste. Ein aufgewecktes Ding. Sie war sehr tapfer. Ich war wirklich beeindruckt. Die meisten Menschen sind nicht sonderlich erbaut, wenn sie begreifen, wer ich bin, auch wenn nicht alle in den Genuss kommen, mich dabei wirklich zu sehen. Das tun nur die, denen ich etwas anzubieten habe. Aber ich erscheine, wo immer ich benötigt werde. Ich bin ziemlich beschäftigt.“
„ Mon Dieu, das kann ich mir vorstellen“, entgegnete ich.
„ Diese Anrede gebührt mir nicht“, wurde ich getadelt. Ich verzichtete darauf, zu erklären, dass ich es nicht als Anrede gemeint hatte.
„ Kommen wir also zu dir, denn meine Zeit ist wirklich sehr begrenzt“, sagte das Mädchen nun resolut.
„ Welche Möglichkeiten bleiben mir?“, fragte ich abermals.
Sie wiegte den Kopf hin und her - ich konnte es spüren, nicht sehen … das ist schwer zu erklären, also lasse ich es. „Zurück in dein altes Leben kannst du nicht“, stellte sie gleich klar. Ich brummte enttäuscht, obwohl ich es eigentlich schon gewusst hatte.
„ Es war ein Vampir, der dich getötet hat.“
Ich hörte die Worte des Mädchens, und was mir längst hätte klar sein müssen, traf mich doch wie ein Schlag.
Ein Vampir … mein Hals … all das Blut! Natürlich, ein Wesen, das eben jenes Blut trank. Oh Gott! Das war schrecklich!
Mir wurde schlecht.
„ Dir kann nicht schlecht sein“, sagte das Mädchen, das meine Gedanken gelesen hatte. „Du bist körperlos, also reagierst du nur noch aus Gewohnheit. Ich kann dich in deine Welt zurückbringen, wenn du so wirst wie er.“
Das ging mir nun doch etwas zu schnell, wie ich zugeben musste.
„ Wie er?“, echote ich, und mir wurde noch schlechter, egal was Mademoiselle la mort dazu meinte.
„ Du meinst, ein … Vampir?“
Ich spürte ihr Nicken.
„ Ich will kein Vampir sein!“, brachte ich laut hervor.
„ Dann bist du tot“, erwiderte das Sensenmann-Mädchen lapidar.
„ Tot. Und wie geht es dann weiter?“, fragte ich.
„ Einfach nur tot. Nichts weiter.“
Ich bat um etwas Geduld. Schließlich hatte ich eine Entscheidung für den Rest meines Lebens zu treffen – oder besser gesagt, für den Rest meines Todes.
„ Zeit ist genau das, was ich leider nicht habe“, sagte das Mädchen überraschend sanft. „Entscheide dich bitte, bis ich zurück bin. Solange wirst du hier bleiben müssen – in der Zwischenwelt.“ Sie verschwand praktisch noch im gleichen Augenblick und ließ mich in besagter Sphäre
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