Verräterherz (German Edition)
bekannte Einheimische lasst ihr Menschen für gewöhnlich näher an euch heran, als Fremde oder gar Ausländer.
Doch selbst wenn ich nicht in die Rolle eines Einheimischen schlüpfte, so fiel es mir an Land niemals schwer, einen passenden Menschen zu finden, an dem ich mich nähren konnte.
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Es hatte mich schließlich nach Mexiko verschlagen. Die Landschaft, die Menschen und ihre Kultur übten einen so beträchtlichen Reiz auf mich aus, dass ich mir beinahe wünschte, schon sehr viel früher unsterblich gemacht worden zu sein – was unlogisch ist, denn was noch nicht lebt, kann man auch nicht unsterblich machen. Verzeih, wenn meine Logik angesichts der kulturellen Schätze manchmal verloren ging. Ich möchte auch nicht den Eindruck erwecken, ich hätte mit meinem Mörder zu dieser Zeit Frieden geschlossen. Es ist mir zu absolut jedem Zeitpunkt meines Vampirdaseins bewusst gewesen, dass ich für das Privileg, mich gut und kräftig zu fühlen, nun selbst töten muss. Eine Unmoral, die ich bis heute verstehe, da ich als gewesener Mensch die tiefen Wurzeln dieser Sünde durchaus noch nachvollziehen kann. Auch wenn ich inzwischen gelernt habe, dass zwischen dieser Lehre und meinem jetzigen Dasein so einige Erdschichten liegen, wenn ich mir diese naturverbundene Metapher erlauben darf.
Mexiko hatte damals die lange Diktatur von Porfirio Díaz gerade hinter sich und es tobte noch die damit verbundene Mexikanische Revolution. Aber ich gebe zu, dass mich das politische Geschehen der Menschen nicht übermäßig interessierte. Was schon mehr mein Interesse auf sich zog, war die mangelnde hierarchische Ordnung der Vampirbevölkerung.
Die Vertreter meiner Rasse lebten damals ohne jeden Anflug gesellschaftlicher Struktur im ganzen Land verstreut und vermittelten mir damit den Eindruck, dass die strengen Regeln, so wie ich sie in Paris oder London kennengelernt hatte, eigentlich ebenso gut vernachlässigt werden könnten. Ja, ich muss zugeben, ich genoss diese unkonventionelle Freiheit, die aus den ungeordneten Verhältnissen resultierte.
Niedergelassen zwischen Oaxaca und Mitla fand ich eine vorübergehende Heimat in der beschaulichen Gemeinde Santa María del Tule. Sie hat ein besonderes Wunder zu bieten – abgesehen davon, dass ich glaube, der einzige Vampir gewesen zu sein, der je dort lebte. Aber das meine ich nicht, denn ich besitze doch genügend Bescheidenheit, um mich selbst nicht als Wunder zu bezeichnen. Ich spreche von dem gewaltigen Ahuehuete-Baum, der im Laufe seiner über Zweitausendjährigen Lebenszeit einen Umfang von gut 59 Metern erreicht hat. Wenn man ihn betrachtet, fühlt man sich selbst als gut 250jähriger Vampir, der ich heute bin, winzig und absolut unbedeutend. Nicht zuletzt liegt das auch daran, dass ich weiß, dass er lebt … im Gegensatz zu mir.
Doch so, wie er Licht und Wasser benötigt, um sich am Leben zu erhalten, so brauche ich Blut, um meinen Körper zu kontrollieren und unter euch Menschen zu weilen.
Es gab eine Bar im Ort, die es mir besonders angetan hatte, um menschliche Kontakte zu Nahrungszwecken zu suchen.
Es war auch alles andere als schwer, diese herzustellen. Dazu gab ich gerne eine Runde schweren Wein oder scharfen Tequila aus. Ich tat dies ab und an, nachdem ich es einmal bei einem Durchreisenden beobachtet hatte, der daraufhin beinahe wie ein Volksheld gefeiert und umdrängt wurde. Irgendwie hatte mir das gefallen und ich sah die Chance, die sich mir selbst durch so eine wenig aufwendige Aktion bot.
Ich genoss das Vertrauen der Menschen um mich herum, die so ahnungslos, so dumm, ja so absolut naiv waren, mir dann auf die Schulter zu klopfen und mir zuzuprosten.
Ich sah sie trinken, hob mein eigenes Glas und kippte Wein oder den scheußlichen Tequila meine Kehle hinab, in dem Wissen, dass schon bald das wesentlich wohlschmeckendere Blut meines Trinkkumpan folgen würde.
Ein junger Mexikaner hatte meine besondere Aufmerksamkeit erregt. Er roch würzig und sehr lecker, obwohl er keine Wunde aufwies, die gerechtfertigt hätte, dass ich beinahe vor Blutlust verging, als er sich neben mich setzte, freundlich für den Tequila dankte und mich dann fragte, ob ich eventuell Arbeit für ihn hätte.
Erst da wurde mir wieder bewusst, dass ich für den Besuch in der Bar in den Körper eines Ranchers geschlüpft war, der einige Stunden zuvor mein Opfer geworden war. Ich hatte mich zwar wie immer strikt nach der Uhr gerichtet, aber ich wollte mir an jenem Tag einfach eine
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