Verräterherz (German Edition)
eine höhere Macht entscheidet. Falls es sie gibt – was ich nicht sage!“
Er hatte vieles nicht gesagt ... und ich hatte begriffen. Es war das alte Lied, das auch unter den Lebenden immer wieder für Hass und Unverständnis sorgt. Die unterschiedliche Beurteilung der Schwere von Schuld. Und ich verstand das Dilemma, in dem der Tod steckte, seit ich Morlet zu ihm geschickt hatte. Wenn er den Hüter in die Gewalt der höheren Macht gab, konnte es passieren, dass dieser in den Himmel gelangen würde ... oder wie auch immer die Bezeichnung für den Ort lautet, an dem das Mädchen nun mit großer Wahrscheinlichkeit ist. Und da der Tod nicht sicher sein konnte, ob sein Versprechen dem Kind gegenüber nicht zunichte gemacht werden würde, wenn er ihn aus der Hand gab, hielt er Morlet einfach in seiner eigenen Gewalt. Aber wie lange sollte das andauern? Genau diese Frage stellte ich dem Tod mit der notwendigen Zurückhaltung natürlich, denn es oblag mir wohl kaum, ihn für sein Vorgehen zu tadeln. Und abgesehen davon, dass ich kein Recht dazu hatte, hatte ich auch gar keine Lust, ihm für sein Verhalten Schwierigkeiten zu machen.
„ Ich könnte ihn ewig dort festhalten“, räumte der Tod schließlich ein. „Aber dann könnte ich niemand anderen mehr dort hinbringen, sonst gibt es Chaos. Und wenn bei mir Chaos ausbricht, ist das eine Gefahr für jedes Lebewesen auf der ganzen Welt.“
Ja, das sah ich ein. Ich seufzte tief. Im Geiste konnte ich schon hören, wie man in den Keller einbrach, in dem ich mich verkrochen hatte. Man würde mich mittels eines Holzpflocks lähmen und meinen Körper genüsslich martern. Wieder und wieder. ...
„ Ich hab’s! Ich brauche nur jemanden, der mich tötet. Mit einem Pflock aus Holz“, erläuterte ich. „Das kann ich nicht selbst, aber vielleicht findet sich jemand.“
Ich war mir kaum darüber bewusst, dass ich zu meinem eigenen Problem zurückgekehrt war. Aber vermutlich hatte ich es getan, weil ich das des Todes ohnehin nicht zu lösen vermochte. Was mit Morlet geschah, war nun ausschließlich seine Sache, aber für mich selbst hatte ich eine Lösung gefunden. Ach, was sage ich eine Lösung – es war DIE Lösung! Ich heischte denn auch um Zustimmung.
Das Mädchen machte komische Geräusche, indem es ein altes Kinderlied summte. Schließlich sagte es: „Das würde deiner Mutter nicht gefallen.“
Ich riss die Augen auf. Hätte ich ein Herz gehabt, so hätte es sicher einen Takt ausgesetzt. „Meine Mutter? Wie kommst du jetzt auf meine Mutter?“
„ Sie hat damals ein paar Mal Kontakt mit mir aufgenommen ... natürlich ohne dass ich mich ihr jemals gezeigt hätte. Immer wieder flehte sie mich an, dass ich sie statt deiner hätte mitnehmen sollen. Und jetzt verlangst du ernsthaft von mir, dass ich deinem Plan zustimme, dass dich jemand tötet? Ich habe dich unsterblich gemacht. Ich finde, das ist eine gute Sache ... eigentlich.“
Wurde der Tod etwa unsicher? Ich wusste nicht mehr was ich denken sollte. Warum hatte er auch unbedingt meine Mutter ins Spiel bringen müssen? Das war unfair. Hatte ich schon erwähnt, dass ich keine Gewissensbisse kenne? Nun, das war gelogen. Aber eigentlich konnte mir jetzt egal sein, was meine Mutter oder irgendjemand sonst über mein freiwilliges Dahinscheiden dachte. Es war meine einzige Möglichkeit! So ist es doch, nicht wahr?
Der Tod sah das anders. Als er damit fertig war seine Zöpfe zu flechten, setzte er ein Lächeln auf, das mir eine bezaubernde Zahnlücke präsentierte.
„ Ich muss jetzt gehen“, verkündete er dann.
„ Du kannst jetzt nicht gehen. Du musst mir behilflich sein!“
Ja, ich schrie ... das Lächeln gefror und für einen Moment sah ich hinter die Erscheinung des rothaarigen kleinen Mädchens. Ich wünschte, ich könnte es beschreiben. Stell dir einfach vor, du stehst an einem Sandstrand und blickst auf das große weite Meer, das dich freundlich mit seinen Zungen an den Zehen berührt ... und plötzlich stellst du fest, dass es gar kein Wasser ist, das dich umschließt, sondern ein Haufen Würmer, die dir tief in die Haut kriechen, ohne dass du es verhindern kannst. So in etwa war das Gefühl, als die wahre Gestalt des Todes durchschimmerte. Er sah nicht anders aus – eher neutral – keine verweste Leiche, wie er mir ja erklärt hatte, aber er fühlte sich anders an. Ich vermute, da waren menschliche Vorstellungen bei mir am Werk, als ich ihn so fühlte. Seine Stimme blieb sanft, obwohl ich ihn angeschrieen
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