Verräterherz (German Edition)
Sicherheit wähnen kann. Ich habe selbst dafür gesorgt, dass eine Belohnung auf ihn ausgesetzt wird, die überaus reizvoll ist. Und zudem ist es die Pflicht jedes ehrbaren Vampirs, einen Hüter-Mörder auszuliefern, sobald man ihn erblickt. Lucien Chevrier, ist sein Name. Er ist ein Verräterherz. Früher oder später wird er für seine Gräueltat bezahlen müssen. Erst gestern habe ich mein Einverständnis gegeben, ihn öffentlich hinrichten zu lassen, sobald er gefasst ist. Alle Welt soll sehen, was jenen geschieht, die sich an den Obersten unserer Gemeinschaft vergreifen.“
Eine öffentliche Hinrichtung also. Irgendwie erleichterte mich das fast, denn immerhin ersparte es mir für unendliche Zeit mit Qualen zu rechnen. Von Jubelstimmung war ich dennoch weit entfernt, wie du dir vermutlich vorstellen kannst. Inzwischen habe ich meinem Dasein immerhin so viel abgewonnen, dass ich es nur sehr ungern beenden möchte. Und schon gar nicht durch fremde Hand. Oder, im Falle einer öffentlichen Hinrichtung, gleich durch mehrere fachmännische Hände, die geschult sind, das Ganze lange – sehr lange hinzuziehen. Nun, ich denke, ich berichtete schon von diesen Qualen und meiner Angst vor ihnen. Das Thema behagt mir auch nicht besonders, ebenso wenig wie ich noch länger von der Wut Madame Morlets berichten möchte, die mir so gnadenlos bestätigt hatte, dass ich wahrhaft zu einem Verräterherz in unserer Gesellschaft geworden war. Darum lass mich dir nun lieber erzählen, was sich weiter in Morlets Laden ereignete.
~11~
Madame Morlet führte mich ins Büro und zeigte auf den geöffneten Aktenschrank, der vermutlich selbst eine Antiquität war. Ich sah mehrere Ordner, aber auch einige Bücher, die in schwarzes Leder eingebunden waren. Daneben standen eine kleine Kiste aus Holz und ein Karton.
„ Dann werde ich mich wohl mal an die Arbeit machen“, sagte ich. Es war mir klar, dass ich mich beeilen musste. Wenn Madame Morlet auf die Idee käme, die Marais anzurufen, würde meine Tarnung schnell auffliegen.
Als sie in den Laden zurückgekehrt war, machte ich mich daran, einige der Ordner aus dem Schrank zu nehmen und stapelte sie auf einem Schreibtisch aus dunklem Holz. Ich klappte den ersten auf und überflog die Papiere. Uninteressant. Zumindest für mich. Wieder wandte ich mich dem Schrank zu und zog diesmal eines der Bücher heraus. Das Leder war angenehm warm, was mich überraschte. Normalerweise lege ich auf so etwas keinen Wert, aber genau wie das Klingeln eines Glöckchens kann es mich darin bestärken, dass Gegenstände leben. Und warum auch nicht? Schließlich bin ich selbst nicht mehr als ein Gegenstand, denn biologisch gesehen bin ich kein Lebewesen ... und dennoch zweifellos lebendig. Empfindest du das anders? Denkst du wirklich, dass nur jene leben können, die über ein schlagendes Herz verfügen, und über einen Stoffwechsel? Was ist dann mit den Orten, die du liebst und die du in deiner Erinnerung als so lebendig empfindest? Haben die etwa ein Herz? Und was ist mit dem alten Teddybär, den du als Kind so fest an dich gedrückt hast, dass dein eigenes Herz für ihn mitzuschlagen schien. Du bist dir aber schon bewusst, dass er in Wahrheit nie ein eigenes besaß? Und doch sprach er vielleicht zu dir, oder hat zumindest ein Auge auf dich gehabt, wenn des nachts der Mond hinter den Wolken verschwand und die Welt in deinem Zimmer sich in zähen Schatten verlor. Ist dir klar, dass dein Teddy nie lebendiger war, als jene Schatten, die drohten, dich aufzufressen? Was wäre, wenn in solchen Schatten ein ebenso lebloser Vampir auf dich lauern würde, um von deinem Blut zu kosten und es für so gut zu befinden, dass er in großen Zügen dein eigenes Leben aus dir trinkt, so wie du vielleicht eine wehrlose Auster ausschlürfen würdest? Würde dein Teddybär dich dann retten? Nein, das würde er nicht! Leben und Tod ... so sinnlos, darüber zu diskutieren. Ich lebe nicht, aber ich bin auch nicht tot! Das bin ich nicht, hörst du?! Aber das werde ich bald sein ... fort. Du sehnst dich danach, dass ich endlich gehe, richtig? Ja, das werde ich. Ich werde dich schon bald in Ruhe lassen und nicht mehr mit meiner Geschichte behelligen. Doch nun, da wir bis hier her gekommen sind, lass mich dir den Rest erzählen – den grauenvollen Rest, damit du meine Bitte begreifst, mit der ich mich zuletzt an dich wenden möchte.
~ღ~
Ich schlug also wie gesagt eines der in Leder gebundenen Bücher auf und warf einen Blick
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