Verräterherz (German Edition)
wirklich ausgezeichneter Jahrgang. Wie wohl zu erwarten bei einem Antiquitätenhändler, hatte Ihr Mann auch hier ein Gespür für rare Kostbarkeiten. Doch wenn Sie mich nun entschuldigen würden... Ich habe hier noch eine Menge zu erledigen.“
Sie nickte. „Natürlich, Monsieur Brasseur.“
Ich hatte ein eigenartiges Gefühl, als sie ging. Es war dieses berühmte Prickeln im Nacken, ein kalter Hauch, ein Gefühl wie beim Anblick eines madengefüllten Leibes eines kuscheligen Kaninchens am Wegesrand. Ich bin mir sicher, du verstehst was ich meine. Aber ich hatte nicht viel Zeit, um mir darum Gedanken zu machen. Ganz im Gegenteil. Und doch musste ich ohne Hast vorgehen, denn das hätte mich überaus verdächtig gemacht. So zwang ich mich zur Ruhe und schlug erneut die Seite in dem Buch auf, auf der ich die Hauptrolle spielte. Nun gut, gemeinsam die Hauptrolle mit neun Mordopfern, die über mir eingetragen waren und rund einem Dutzend, die noch folgten. Und dann tat ich, was ich eigentlich hatte vermeiden wollen – ich las, was er über mich geschrieben hatte.
Junger Mann – l – w – im Sterben volle Entfaltung von Süße und verzweifelter Aufgabe. Todeszeitpunkt: 8.37 Uhr abends.
Ich überging den falschen Todeszeitpunkt, denn natürlich hatte er geglaubt, ich sei tot. Vielleicht war ich das sogar, denn immerhin hatte Madame la mort sich blicken lassen. Aber wie dem auch sei, was mich viel mehr interessierte, waren die Abkürzungen l und w. Solche Buchstaben hatte ich bei vielen seiner Opfer gefunden. Ich schlug die erste Seite des Buches auf und wurde fündig. Morlet hatte ein ganzes Alphabet angelegt, mit dem er die Eigenschaften seiner Opfer beschrieb, und als wolle er die rechte emotionale Distanz halten, die ein Mörder nun mal zu seinem Opfer braucht, hatte er neben den Namen nur einzelne Buchstaben verwendet. Ich ging die Liste durch und fand: l = lebenslustig und w = wehrhaft.
Lebenslustig ... so hatte ich also auf ihn gewirkt. Und es hatte ihn offenbar dazu gebracht, es umso mehr zu genießen, diese Lebenslust aus mir herausschwinden zu sehen. Darauf ließ mich das Wort wehrhaft schließen, das er wohl kaum vermerkt hatte, um beim nächsten Mal im Umgang mit mir vorsichtiger zu sein, sondern weil er es genossen hatte, dass ich mich gegen ihn wehrte ... und ihm zuletzt doch unweigerlich unterlegen war. Ansonsten hätte er wohl kaum noch eine zusätzliche Bemerkung über die Süße gemacht, die er bei meiner Aufgabe empfunden hatte. Morlet hatte es durch und durch genossen, mich vom Leben zum Tode zu befördern! Das war mir nicht neu. Aber es ist immer hart, etwas schwarz auf weiß zu sehen, nicht wahr?
Nun, ich konnte es zumindest nicht länger mit ansehen, wie er sich an meinem Tod erfreut hatte, und wie dieser zwischen all den anderen Morden stand, ganz so, als wäre ich völlig unbedeutend gewesen ... ein Nichts ... ein NICHTS!
Es machte mich rasend. Und in dieser Wut riss ich die Seite heraus, damit sie für immer aus der Realität verschwinden würde. Aber so einfach sind die Dinge nicht, nicht wahr?
Ich zerknüllte das Papier und steckte es in die Tasche meines Anzugs. Dann legte ich das Buch weg und zog den Karton aus dem Regal. Darin waren Fotos. Ich sah mir zwei oder drei an, bevor ich sie angewidert weglegte. Morlet war nicht nur ein kaltblütiger Mörder und skandalöser Hüter gewesen, sondern auch ein eitler Fatzke, der sein Gesicht überaus gerne in eine Kamera gehalten hatte. Als Vampir aus der gehobenen Gesellschaft hatte er immerhin den Vorteil, mit seiner Erscheinung zu altern, bevor er sich eine neue zulegen würde. Ob dies nun ein Vor- oder ein Nachteil ist, darüber kann man sich wohl streiten. Dorian Gray hätte es sicher als Vorteil angesehen, doch gibt es meines Erachtens nach viele Aspekte, die man bedenken muss, über die ich jetzt jedoch nicht spekulieren möchte.
Tatsache ist jedoch, dass Morlet zumindest die Möglichkeit gehabt hatte, in seinem Körper auch sichtbar ein hohes Alter zu erreichen, während mir selbst nur übrig blieb, entweder für immer der junge Lucien Chevrier zu bleiben, oder die Körper zu wechseln. Ich sehe es tatsächlich als Vorteil an, zu fühlen, wie der Körper sich verändert ... Vielleicht gerade deshalb, weil es mir eben nicht möglich ist.
Ein Aristokrat wie Morlet hingegen kann beides, ganz wie es ihm beliebt – in seinem eigenen Körper altern und die Körper seiner Opfer übernehmen. Es scheint, als hätte die Bande wirklich alle
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