Verräterherz (German Edition)
hinein. Hätte ich einen eigenen Puls, so hätte er da vermutlich angefangen zu rasen. Das, was meine Augen überflogen, waren Geständnisse in Reinform. Wie ich dir bereits schon zu Anfang meiner Erzählung berichtete, hatte Morlet jeden einzelnen Mord genauestens verzeichnet. Es waren so viele, dass meine Finger hektisch durch die Seiten zu blättern begannen. Und jede Zeile dokumentierte sein Versagen als Hüter nur überdeutlich. Ihm war es untersagt, Blut direkt aus dem Körper seiner Opfer zu trinken – aber er hatte es tausendfach getan. Fein säuberlich hatte er notiert, zu welchem Zeitpunkt das Leben aus seinen Opfern gewichen war. Für den Geschmack des Blutes hatte er eine eigene Legende erfunden, die er mittels Symbolen in die unterschiedlichsten Aromen einteilte. Ich überflog diese Einträge nur, ein wenig mehr Aufmerksamkeit widmete ich jedoch seinen Errungenschaften, die er nach jedem dieser Morde den Opfern entwendet hatte. Oft waren es Gegenstände wie Schmuck oder Bargeld, was wohl nicht weiter verwunderlich ist. Aber es waren auch überaus skurrile Dinge darunter, die darauf schließen lassen, dass entweder seine Opfer merkwürdige Gegenstände transportiert hatten, als Morlet sie erwischte, oder dass der „ehrwürdige“ Hüter sich wie ein ganz gewöhnlicher Dieb im Hause der Ermordeten umgesehen hatte, um dann einzupacken, was ihm am reizvollsten erschien. Wann er entschieden hatte, die Sachen wieder zu verkaufen, wurde mir aus den Aufzeichnungen nicht ersichtlich. Es mag sein, dass er erst damit begann, wenn die Gegenstände – beziehungsweise deren Besitzer – in Vergessenheit geraten waren, damit man ihm nicht auf die Schliche kam. Ich vermute, dass ich das in den Ordnern hätte ersehen können, aber es interessierte mich letztendlich auch gar nicht.
Ich ging seine Einträge einen nach dem anderen durch - seine Beichte, die er nur für sich selbst abgelegt hatte – doch als er sie aufschrieb, hatte er mit Sicherheit nicht damit gerechnet, dass ein „Nichts“ wie ich all seine Schandtaten eines Tages durchwühlen würde. Ausgebreitet lagen sie vor mir – wie ein gigantischer Schandfleck auf Morlets sonst so reiner Weste. Diese Morde machten ihn zu einem Monster in unseren eigenen Reihen, denn sie widersprachen ganz offensichtlich seiner Position als Hüter, und das auf geradezu skandalöse Weise.
So wie er zu jedem Opfer eine persönliche Bemerkung zum Geschmack des Blutes gemacht hatte, hatte er auch zu jedem entwendeten Gegenstand knappe Angaben notiert, die wohl weniger dem Verkauf, als vielmehr seiner eigenen Eitelkeit dienen sollten.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie er die Seiten ein ums andere Mal überflog, nachdem er eine neue Errungenschaft hinzugefügt hatte. Und diese Eitelkeit war mit Sicherheit ein weiterer Makel, denn eine solch niedere Regung sollte einem Hüter wohl eigentlich fremd sein. Auch ich überflog nun den Text, und so wie er empfand ich eine Regung, die wohl niederer Art ist. Aber das war mir egal, denn ich hatte jedes Recht, in diesem Moment erneut rachsüchtig zu sein. Ich blätterte bis zu der Jahreszahl, die mich interessierte.
1760:
Smaragdbrosche – silbern eingefasst, Stein mit Blütengravur.
Granat-Kreuzanhänger – Öse verbogen.
Spiegelkommode – Efeuranke einseitig.
Ehering – Gravur: Emile 1754
Eiertablett in Silber – leicht verbeult.
Kaffeeservice – feinstes Porzellan, vollständig.
Ledergebundenes Buch über geheime Rituale – geschrieben 1716, Verfasser J.D. Identität unbekannt.
Siegelring – gold, reichverziertes Monogramm: RH
Familienbibel - mit handschriftlichem Stammbaum der Familie Ligot.
Taschenuhr – Gravur: Pour mon chéri Lucien.
…
Ich erstarrte. Es folgten noch so viele Einträge, doch ich war unfähig, sie zu lesen. Mein Blick verschwamm und ich verspürte eine Leere, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war. Ich kann nicht sagen, wie lange ich so dort stand und meine Gedanken wie gelähmt waren. Plötzlich ertönte hinter mir die Stimme von Madame Morlet.
„ Wenn Sie gestatten, Monsieur Brasseur, möchte ich Ihnen einen Kelch Blut aus dem Bestand meines Mannes anbieten.
Als Hüter war er dazu verdammt, seine Mahlzeiten nur aus Trinkgefäßen zu sich zu nehmen, doch nie direkt aus einem menschlichen Körper.“
Sie stellte ein Tablett auf den Tisch und reichte mir einen Kristallkelch, der zu dreiviertel gefüllt war. Ein zweiter Kelch war ebenfalls mit Blut gefüllt, daneben stand eine Karaffe,
Weitere Kostenlose Bücher