Verrat in Paris
schüttelte gerade Reggie Vane die Hand. Ein merkwürdiger junger Mann, dachte Beryl. Was für ein kranker Geist denkt sich solche Albtraum-Visionen aus? Frauen, die Schakale säugen. Paare, die einander verspeisen. Ob es so schrecklich gewesen war, als Sohn von Nina Sutherland aufzuwachsen?
Sie wanderte mit Richard durch den zweiten Stock der Galerie, doch Nina war nirgends zu sehen.
»Warum willst du sie unbedingt sprechen?« fragte Beryl.
»Will ich gar nicht. Aber sie schlich so klammheimlich nach oben, als ob sie nicht entdeckt werden wollte.«
»Und du hast sie entdeckt.«
»Es war ihr Kleid. Ihr Markenzeichen – das Kleid mit den Glasperlen.«
Sie beendeten den Rundgang durch den zweiten Stock und machten sich auf den Weg in den dritten. Auch hier keine Spur von Nina. Als sie weiterschlenderten, hörten die Musiker im untersten Stock plötzlich auf zu spielen. In der Pause, die darauf folgte, hörte Beryl Ninas Stimme – ein paar laute Silben – und dann plötzlich Flüstern. Eine andere Stimme antwortete ihr, die Stimme eines Mannes.
Die Stimmen kamen aus einer Nische direkt vor ihnen.
»Es ist ja nicht so, dass ich keine Geduld gehabt hätte«, sagte Nina. »Oder nicht versucht hätte, Verständnis zu haben.«
»Ich weiß. Ich weiß …«
»Weißt du, wie das für
mich
ist? Für Anthony? Machst du dir überhaupt eine Vorstellung davon? Seit Jahren warten wir darauf, dass du eine Entscheidung triffst.«
»Euch hat es doch nie an etwas gefehlt.«
»Oh, da dürfen wir uns aber glücklich schätzen! Meine Güte, wie großzügig von dir!«
»Der Junge hat das Beste vom Besten bekommen – alles, was er wollte. Jetzt ist er 21. Ich stehe nicht mehr in der Verantwortung für ihn.«
»Deine Verantwortung«, sagte Nina, »fängt jetzt erst an.«
Richard schob Beryl um die Ecke, gerade als Nina aus der Nische auftauchte. Sie stürmte an ihnen vorbei, zu verärgert, um sie beide zu bemerken. Sie hörten ihre hohen Absätze auf den Stufen nach unten.
Einen Moment später trat eine zweite Gestalt aus der Nische. Sie bewegte sich wie ein alter Mann.
Es war Philippe St. Pierre.
Er ging zur Brüstung und schaute hinunter auf die Menge. Fast schien es, als wollte er sich aus dem dritten Stock in die Tiefe stürzen. Dann seufzte er tief und folgte Nina die Stufen hinab.
Im untersten Stockwerk zerstreute sich die Menge allmählich. Anthony war bereits gegangen; die Vanes auch. Aber Marie St. Pierre stand noch immer in ihrer Ecke, die verlassene Frau, die darauf wartet, dass man sie abholt. Am anderen Ende des Raums stand ihr Ehemann Philippe mit einem Glas Champagner in der Hand. Zwischen den beiden befand sich die makabre Skulptur, der Mann und die Frau aus Bronze, die einander bei lebendigem Leib verspeisten.
Beryl dachte, dass Anthony mit seinem Kunstwerk vielleicht ins Schwarze getroffen hatte. Wenn die Menschen nicht aufpassten, konnte die Liebe sie vereinnahmen, sie zerstören. Wie sie Marie zerstört hatte.
Das Bild von Marie St. Pierre, allein und verloren in der Ecke, beschäftigte Beryl noch auf dem Weg zurück zur Wohnung. Sie dachte, es müsste schwer sein, die Frau eines Politikers zu spielen – immer souverän, immer freundlich, immer für ihn da, bloß keine Xanthippe sein. Selbst wenn man wusste, dass der eigene Mann in eine andere Frau verliebt war.
»Sie muss es schon seit Jahren wissen«, sagte Beryl leise.
Richard hielt den Blick auf die Straße gerichtet, als er sie zurück nach Passy chauffierte. »Wer?« fragte er.
»Marie St. Pierre. Sie muss von ihrem Mann und Nina gewusst haben. Jedes Mal, wenn sie Anthony ansieht, erkennt sie die Ähnlichkeit. Und das muss wehtun. Und trotzdem hat sie ihn die ganze Zeit ertragen.«
»Und Nina«, ergänzte Richard.
Beryl lehnte sich zurück. Sie war verwirrt.
Ja, sie erträgt Nina. Und das verstehe ich nicht. Wie kann sie so nett zu der Geliebten ihres Mannes sein, so höflich? Und zu seinem Bastard von Sohn …
»Hältst du Philippe für Anthonys Vater?«
»Natürlich, davon sprach Nina doch. Dieses Gerede von Philippes Verantwortung. Sie meinte damit: für Anthony.«
Sie hielt inne. »Die Kunstschule muss sehr teuer sein.«
»Und Philippe wird über die Jahre ein nettes Sümmchen zur Unterstützung des Jungen hingelegt haben. Ganz abgesehen von Ninas Ansprüchen, ihrem extravaganten Geschmack, um es mal so zu nennen. Ihre Witwenrente hätte niemals ausgereicht, um …«
»Was meinst du?« fragte Beryl.
»Ich muss gerade an ihren
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