Verrat in Paris
uns, Jordie. Wie denn auch?« Sie sah wieder aus dem Fenster, auf die länger werdenden Schatten auf dem Place Vendôme. Denselben Blick musste auch ihre Mutter bei ihren Besuchen in Paris genossen haben. Dasselbe Hotel, vielleicht sogar dasselbe Zimmer. Ich trage sogar ihr Kleid. »Es kommt mir so vor, als wüssten wir nicht mehr, wer wir sind«, sagte sie. »Wo wir herkommen.«
»Wer du bist, wer ich bin, daran bestand nie ein Zweifel, Beryl. Egal, was wir über sie herausfinden, es hat mit uns nichts zu tun.«
Sie sah ihn an. »Also glaubst du, die Geschichte könnte wahr sein.«
Er stockte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er zögernd. »Aber ich rechne mit dem Schlimmsten. Und das solltest du auch tun.«
Er ging zum Schrank und holte ihr Cape.
»Komm, kleine Schwester. Es ist Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Was auch immer das bedeuten mag.«
Um sieben Uhr betraten sie das Café Le Petit Zinc, das Daumier als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Für die Franzosen war es noch zu früh zum Abendessen, und so war das Café leer bis auf ein einsames Paar, das bei Brot und Suppe saß. Sie 51
nahmen in einer Nische im hinteren Teil des Cafés Platz und bestellten Wein und Brot, dazu Sellerie und eine Senfsoße zum Dippen. Nach einiger Zeit verließ das Pärchen das Lokal. Es wurde später und später. Ob Daumier seine Meinung geändert hatte und sie doch nicht treffen wollte?
Um zwanzig nach sieben öffnete sich schließlich die Tür, und ein drahtiger kleiner Franzose in Anzug und Krawatte betrat das Lokal. Angesichts seiner grauen Schläfen und der Aktentasche hätte man ihn genauso gut für einen Banker oder Anwalt halten können. Doch in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, und er ihr kaum merklich zunickte, wusste sie, dass er Claude Daumier sein musste.
Doch er war nicht allein, ein zweiter Mann betrat das Restaurant. Gemeinsam näherten sie sich der Nische, in der Beryl und Jordan Platz genommen hatten. Beryl erstarrte, als sie erkannte, wen Daumier mitgebracht hatte.
»Hallo Richard«, sagte sie leise. »Ich wusste nicht, dass du auch in Paris bist.«
»Wusste ich auch nicht«, erwiderte er. »Bis heute Morgen jedenfalls nicht.«
Man stellte sich einander vor und schüttelte sich die Hände.
Dann setzten sich die beiden Männer zu ihnen. Beryl saß Richard gegenüber. Als er sie ansah, kribbelte es wieder in ihr, und sie musste an ihren Kuss denken. Beryl, du Idiotin, dachte sie ärgerlich, du lässt zu, dass er dich irritiert. Dass er dich verwirrt. Kein Mann hat das Recht dazu, so etwas mit dir zu machen – zumindest keiner, den du erst einmal geküsst hast.
Und erst recht keiner, den du erst seit 24 Stunden kennst.
Trotzdem konnte sie nicht vergessen, was im Garten von Chetwynd geschehen war. Der Geschmack seines Kusses! Sie schaute ihn an, als er sich ein Glas Wein einschenkte und das Glas an die Lippen führte. Wieder begegneten sich ihre Blicke.
Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen, die leicht nach 52
dem Burgunder schmeckten.
»Und was führt dich nach Paris?« fragte sie und nickte ihm zu.
»Um ehrlich zu sein: Claude.« Er deutete in Daumiers Richtung.
Auf Beryls fragenden Blick hin sagte Daumier: »Als ich hörte, dass mein alter Freund Richard in London ist, dachte ich mir: Warum soll ich ihn nicht um Rat fragen? Schließlich ist er Experte auf diesem Gebiet.«
»Der Anschlag bei den St. Pierres«, erklärte Richard.
»Eine bisher unbekannte Organisation bekennt sich zu dem Bombenattentat. Claude meint, ich könnte herausfinden, um wen es sich handelt. Ich habe mich jahrelang mit sämtlichen terroristischen Gruppierungen beschäftigt.«
»Und was haben Sie herausgefunden?« fragte Jordan.
»Noch nichts«, gab er zu. »Die ›Kosmische Solidarität‹ kennt mein Computer nicht.« Er nahm noch einen Schluck Wein und sah sie an. »Aber die Reise ist nicht völlig umsonst«, fügte er hinzu. »Seit ich weiß, dass ihr auch in Paris seid.«
»Aus rein geschäftlichen Gründen«, warf Beryl ein. »Fürs Vergnügen haben wir keine Zeit.«
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher«, entgegnete sie knapp. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Daumier. »Mein Onkel hat Sie darüber informiert, warum wir hier sind. Richtig?«
Der Franzose nickte. »Ich weiß, dass Sie beide den Bericht gelesen haben.«
»Von vorne bis hinten«, fügte Jordan hinzu.
»Dann kennen Sie ja die Beweislage. Ich selbst habe die Zeugenaussagen und die Untersuchung des Coroners
Weitere Kostenlose Bücher