Verrat in Paris
gefährlich. Es war diese verdammte Anziehungskraft zwischen ihnen – das Feuer der Hormone, die Erinnerung an seine Küsse –, die ihr Urteilsvermögen benebelte. Was hat dieser Mann bloß an sich? Ich sehe ihn an, atme seinen Duft ein, und schon will ich ihn am liebsten ausziehen. Und mich dazu.
Sie schaute nach vorn und versuchte, all die unterschwelligen Botschaften zwischen ihnen zu ignorieren. »Ich will mit Daumier sprechen.«
Nach einer Weile sagte er: »In Ordnung. Wenn es dazu dient, 101
dass du mir glaubst.«
Es stellte sich heraus, dass Daumier nicht in seinem Büro war, als Richard ihn anrief; er war gerade fortgegangen, um noch einmal mit Marie St. Pierre zu sprechen. Also fuhren sie zum Cochin-Krankenhaus, in dem Marie noch immer lag.
Schon vom anderen Ende des Korridors konnte man erkennen, welches Zimmer das von Marie war; ein halbes Dutzend Polizisten hielt vor ihrer Tür Wache. Daumier war noch nicht eingetroffen. Madame St. Pierre wurde informiert, dass Lord Lovats Nichte da war, und bat Beryl und Richard sofort herein.
Es stellte sich heraus, dass sie an diesem Nachmittag nicht die einzigen Besucher waren. Neben dem Krankenbett saßen Nina Sutherland und Helena Vane. Offensichtlich war eine kleine Teeparty im Gange, es gab Gebäck und Sandwiches, die auf einem Rollwagen vor dem Fenster standen. Die Patientin nahm allerdings nichts von den Leckereien zu sich. Sie saß aufrecht im Bett und gab das Bild einer traurigen, müde aussehenden französischen Hausfrau ab, die einen zu ihrem grauen Haar passenden grauen Bademantel trug. Ihre einzigen sichtbaren Verletzungen schienen ein blauer Fleck im Gesicht und ein paar Kratzer auf den Armen zu sein. Man sah der Frau an, dass es ihre Seele war, die am schwersten verwundet war. Jeder andere Patient wäre schon längst entlassen worden; nur ihrem Status als Gattin von St. Pierre war diese Sonderbehandlung zu verdanken.
Nina goss zwei Tassen Tee ein und reichte sie Beryl und Richard. »Seit wann sind Sie in Paris?« fragte sie.
»Jordan und ich sind gestern angekommen«, sagte Beryl.
»Und Sie?«
»Wir sind zusammen mit Helena und Reggie zurückgeflogen.«
Nina lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich dachte mir, ich sollte gleich heute Morgen mal bei Marie vorbeigehen und schauen, wie es ihr geht. Die Arme, ein bisschen Aufmunterung tut ihr gut.«
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Ein Blick in das Gesicht von Marie St. Pierre machte mehr als deutlich, dass von Aufmunterung bislang keine Rede sein konnte.
»Was ist nur los in dieser Welt?« fragte Nina und balancierte vorsichtig ihre Teetasse. »Überall nur noch Wahnsinn und Anarchie! Nicht einmal in der Upper Class bleibt man davor verschont.«
»Gerade nicht in der Upper Class«, sagte Helena.
»Haben die Untersuchungen schon etwas Neues ergeben?«
erkundigte sich Beryl.
Marie St. Pierre seufzte. »Sie bestehen darauf, dass es ein terroristischer Anschlag war.«
»Aber natürlich«, sagte Nina. »Wer sonst sollte das Haus eines Politikers in die Luft jagen wollen?«
Marie senkte den Blick. Sie schaute auf ihre Hände, die knochigen Finger, die verschränkt in ihrem Schoß lagen. »Ich habe Philippe vorgeschlagen, dass wir Paris für eine Weile verlassen sollten. Vielleicht schon heute Abend, wenn ich entlassen werde. Wir könnten in die Schweiz fahren …«
»Eine ausgezeichnete Idee«, murmelte Helena beipflichtend.
Sie drückte Marie die Hand. »Ihr müsst mal raus, nur ihr beide.«
»Aber wenn ihr die Flucht ergreift«, warf Nina ein, »denken die Terroristen, sie haben gewonnen.«
»Du kannst das leicht sagen«, erwiderte Helena. »In deinem Haus wurde ja auch keine Bombe gelegt.«
»Dann würde ich gerade in Paris bleiben«, gab Nina zurück.
»Keinen Zentimeter würde ich …«
»Musst du ja auch nicht.«
»Was?«
Helena sah weg. »Nichts.«
»Wovon sprichst du, Helena?«
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»Ich denke nur«, sagte Helena, »dass Marie das tun soll, was sie für richtig hält. Eine Weile aus Paris wegzugehen ist doch sinnvoll. Dazu würde jede Freundin ihr raten.«
»Ich bin ihre Freundin.«
»Ja«, murmelte Helena, »natürlich.«
»Hast du gerade was anderes unterstellt?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Was murmelst du dauernd vor dich hin, Helena? Das macht mich ganz verrückt. Ist es so schwer, die Dinge offen auszusprechen?«
»Bitte!« stöhnte Marie.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihren Streit. Ninas Sohn Anthony kam herein. Wie immer trug er ein extravagantes Hemd, diesmal
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