Verrat und Verführung
er sie immer wieder forschend beobachtete. Während der ganzen Mahlzeit wechselten sie kein einziges Wort.
Nach dem Frühstück eilte Christina in ihr Zimmer und kleidete sich hastig um. Zu ihrer Verblüffung kam ein besorgter, verkaterter William zu ihr, entschuldigte sich nicht für sein Verhalten in der letzten Nacht und erwähnte auch nicht, wie er in sein Bett geraten war. Zerzaust hing ihm das blonde Haar in die Stirn, Bartstoppeln umschatteten sein Kinn.
„Was machst du hier, William?“, herrschte sie ihn zorniger an, als sie es beabsichtigte. „Einfach grässlich siehst du aus! Wie enttäuscht ich von dir bin, kann ich gar nicht in Worte fassen. Warum musstest du so viel trinken? Wie ich höre, hast du zusammen mit Lord Rockleys Kammerdiener gezecht, nachdem sich alle Gäste verabschiedet hatten. Warum nimmst du ein solches Wagnis auf dich? Das begreife ich nicht. Wie konntest du dich mit einem Mann betrinken, der hier genauso eifrig herumschnüffelt wie sein Herr? Hoffentlich hast du nichts verraten.“
„Nichts, was uns gefährden könnte, Christina“, murrte er. „Das versichere ich dir. Daran erinnere ich mich ganz genau. Und jetzt erzähl mir endlich, was geschehen ist, als du letzte Nacht in Buckleys Höhle warst. Weil er sich in Lord Rockleys Gegenwart auf Oakbridge herumtrieb, war mir ganz mulmig zumute. Hat er seine Pläne verworfen?“
„Nein, Lord Rockleys Anwesenheit konnte ihn nicht einschüchtern.“
„Ist Rockley immer noch da?“
„Ja, und da du der Hausherr bist, solltest du dich um ihn kümmern, statt die Verantwortung dauernd auf mich abzuwälzen“, schimpfte Christina. „Heute Morgen hat er mich auf meinem Ritt begleitet. Gerade eben musste ich mit ihm frühstücken.“
„Freut mich, wie gut du dich mit ihm verstehst. Gestern Abend hast du lange mit ihm gesprochen. Ein attraktiver Mann, findest du nicht auch?“
„Sehr attraktiv – auf gefährliche Weise.“
„Genau das meine ich, und deshalb muss er möglichst schnell von hier verschwinden.“
„Ausnahmsweise stimme ich dir zu.“ Weil ihr die Zeit für eine kunstvolle Frisur fehlte, schlang sie ihr Haar zu einem schlichten Nackenknoten zusammen.
„Er beobachtet uns in einem fort – uns alle beobachtet er, Christina. Und ich fürchte, er spioniert uns schon eine ganze Weile nach. Nichts entgeht ihm. Offenbar sucht er Beweise, womöglich gegen uns. Und wenn es welche gibt, wird er sie aufstöbern.“ Unglücklich starrte William seine Schwester an. „Hat er irgendwas angedeutet? Verdächtigt er uns?“
„Nein … Ach, ich weiß es nicht, William“, antwortete sie müde. „Er sucht Mark Buckley. So viel hat er mir verraten. Und er will ihn um jeden Preis ausfindig machen.“
„Dann muss er gründlich suchen. So leicht lässt Buckley sich nicht erwischen. Bisher hat er sich der Festnahme erfolgreich entzogen.“
„O ja, das hat er. Aber ich wünschte, er würde endlich hinter Gittern landen!“, stieß Christina erbost hervor. „Letzte Nacht … kam er in mein Zimmer.“
Verwundert riss William die Augen auf. „Warum?“
„Was glaubst du denn?“, fauchte sie. Die ganze Wut über Mark Buckleys dreiste Verletzung ihrer Privatsphäre stieg erneut in ihr auf. „Um mich zu belästigen. Dass er unser Haus für seine ungesetzlichen Zwecke benutzt, genügt ihm nicht. Jetzt richtet er seinen lüsternen Blick auch noch auf mich. Und wenn ihm jemand einen Strich durch die Rechnung macht, wird er uns beide dafür bestrafen. O William, ich würde es nicht ertragen, wenn er … wenn er …“
„Bitte, Christina, beruhige dich. Niemals würde Buckley …“
„Bist du da so sicher, William?“, unterbrach sie ihren Bruder. „Allein schon der Gedanke, dieser widerwärtige Kerl würde über mich herfallen … In den Augen sämtlicher Menschen, die mich kennen, wäre ich für alle Zeiten geächtet. Und das werde ich nicht zulassen. Mark Buckley darf mein Schlafzimmer nicht betreten! Nie wieder! Als er gestern Nacht durch unser Haus schlich, hätte er Lord Rockley begegnen können. Und was wäre dann aus uns geworden? Wenn er endlich hinter Schloss und Riegel sitzt, wird niemand glauben, du hättest keinen Anteil an seinen Verbrechen. Dann wirst du genauso in die Verdammnis geschickt wie er.“
„In der Tat, Christina, diesmal hat er seine Grenzen überschritten.“
„In Zukunft werde ich meine Schlafzimmertür versperren. Aber du musst mit ihm sprechen, William. Mach ihm klar, dass er dieses Haus nie mehr
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