Verraten
aus anblickte, als sei er die Lösung für alle Probleme.
Er riss sich zusammen, legte los und tat seine Pflicht. Zuerst stabilisierte er seinen Patienten. Er überprüfte, ob die Atemwege frei waren. Sils Nase war von innen zugeschwollen und von außen großflächig violett verfärbt, was auf einen Nasenbeinbruch hindeutete. Das Blut in seinem Gesicht stammte größtenteils von dieser Verletzung. Sven nahm das Nasenbein zwischen Daumen und Zeigefinger, und es ließ sich ganz leicht bewegen. Zu leicht. Die Nase war also tatsächlich gebrochen, aber das war nicht das Schlimmste, darum konnte er sich später kümmern.
Da Sil nur durch den Mund atmen konnte, konnte zusätzliche Sauerstoffzufuhr nicht schaden. Sven zog den Apparat für die Inhalationsnarkose heran. Quietschend rollten die Räder über den Fliesenboden. Er zog eine Schublade auf und fuhr mit den Fingern suchend über die Endotrachealtubuli, durchsichtige, glatte, flexible Schläuche, die vor einer Operation in die Luftröhre der Tiere hineingeschoben wurden. Er hatte keine Ahnung, welchen Durchmesser eine menschliche Luftröhre hatte. Er entschied sich für den dicksten Tubus, den er hatte, und schob ihn in Sils Luftröhre hinein. Er drehte die Sauerstoffflasche auf, schloss sie an den Schlauch an und blies die Tubusmanschette auf, sodass Sils Luftröhre gänzlich abgedichtet war und er keine zusätzliche Luft einatmen konnte. Für eine ausreichende Sauerstoffzufuhr des Patienten war nun jedenfalls gesorgt. Anschließend maß Sven ihm den Blutdruck und stellte fest, dass er alarmierend niedrig war. Er kontrollierte Sils Puls und seine Schleimhäute und kam zu dem Ergebnis, dass es alles in allem sehr schlimm um ihn stand.
Sven drehte sich um und nahm zwei Scheren zur Hand. Eine davon reichte er Susan.
»Seine Kleidung ist im Weg, ich kann gar nichts erkennen!« Ihm war nicht bewusst, dass er schrie.
Susan legte sofort los. Zog Sil die Schuhe aus und schnitt seine Hosenbeine auf. Sven schnallte das Holster ab und knöpfte sich den Pullover vor. Der dicke Stoff klebte an Sils Schulter und ließ sich nicht so leicht abziehen.
Sven erschrak, als er sah, was unter der Kleidung zum Vorschein kam. Sils ganzer Körper war von oben bis unten mit Quetschungen, Blutergüssen und Schürfwunden bedeckt. Einige Verletzungen sahen frisch aus, andere verheilten bereits.
Was war das für ein Kerl? Was hatte er um Himmels willen angestellt? Sven untersuchte Sil auf Anzeichen für innere Verletzungen. Auf irgendeinen kleinen Hinweis, den zu übersehen fatal gewesen wäre. Aber die meisten Wunden sahen wie gewöhnliche Beulen, Schrammen und blaue Flecken aus. Die wirklich ernsthaft betroffenen Körperteile waren, soweit er das nach der ersten raschen Bestandsaufnahme feststellen konnte, die Nase und die Schulter. Sils Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, was ihn ein wenig beruhigte. Sein Herz und seine Lungen funktionierten noch. Aber nicht mehr lange, wenn er sich nicht ganz schnell etwas einfallen ließ.
Sils leichenblasse Haut bereitete ihm Sorgen. Wahrscheinlich war der hohe Blutverlust das größte Problem. Ein Mann wie Sil besaß normalerweise an die sechs Liter Blut. Sils Haut war aschgrau, und die Schleimhäute waren blass. Er musste also durch die Wunde an der Schulter einen erheblichen Teil dieser sechs Liter verloren haben. Susan hatte sehr gute Arbeit geleistet, als sie Sils Schulter abgebunden hatte, aber die Blutung war dadurch nicht zum Stillstand gekommen. Eine oder mehrere große Adern mussten getroffen worden sein. Ein zu hoher Blutverlust war lebensgefährlich. Die inneren Organe konnten durch Sauerstoffmangel irreparable Schäden erleiden. Oder der Patient geriet durch akuten Flüssigkeitsmangel in einen Schockzustand. Dann sah es wirklich schlecht aus. Im Eiltempo legte Sven seinem Patienten eine Infusion mit physiologischer Kochsalzlösung an, um zunächst einmal die Flüssigkeitsmenge in seinem Körper zu erhöhen. Doch nun bestand die Gefahr, dass Sil wach werden, in Panik geraten und sich sämtliche Schläuche herausreißen würde. Er musste versuchen, ihn zu betäuben. Sven starrte den Inhalationsnarkoseapparat an. Führte blitzschnelle Berechnungen durch. Sil wog um die neunzig bis fünfundneunzig Kilo. Der größte Hund, den er je behandelt hatte, war eine achtzig Kilo schwere Deutsche Dogge gewesen. Wie viel Narkosemittel hatte er für sie gebraucht? Ihm war bewusst, dass die richtige Menge des Narkotikums nicht allein von dem
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