Verraten
keine zehn Minuten vergangen. Sven stand wieder neben ihr. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und trug keinen Mundschutz mehr. Er schob eine dicke Nadel in eine Ader an ihrem Handgelenk, verband sie mit einem meterlangen Schlauch und steckte diesen auf den Beutel mit Kochsalzlösung am Infusionsständer.
»Gleich geht’s dir wieder um einiges besser«, versprach er.
Susan bekam kaum mit, wie Sven auch den Beutel, in dem ihr Blut gewesen war, durch einen Behälter mit Kochsalzlösung ersetzte.
Plötzlich bemerkte sie, wie sich Sils Füße bewegten, und wandte ihm ruckartig den Kopf zu. Sven beugte sich bereits mit einem Stethoskop um den Hals über ihn. Leuchtete mit einem kleinen Lämpchen in seine Augen. Pumpte die Manschette eines Blutdruckmessgeräts auf.
»Willkommen zurück unter den Lebenden«, hörte sie Sven sagen, während er Sil das Stethoskop an die Halsschlagader legte. »Das war knapp. Tu mir einen Gefallen und bleib still liegen.«
Sil gab eine Art Gebrumm von sich und nickte ansatzweise. Über den Operationstisch hinweg zwinkerte Sven Susan erleichtert zu.
»Er ist aufgewacht.«
Als Nächstes holte Sven eine dünne Matratze aus dem Nebenraum und legte sie neben den Tisch. Er verschwand wieder und brachte Decken herbei, die er auf die Matratze legte.
Susan sah zu, wie er den Endotrachealtubus aus Sils Hals zog und mit dem Aufräumen anfing.
»Wie geht’s dir denn jetzt?«, fragte er Susan im Vorbeigehen.
»Besser«, antwortete sie. »Mir ist nicht mehr so schwindelig.«
»Wir müssen ihn auf die Matratze legen und ihn warm halten«, sagte Sven. »Allein schaffe ich das nicht. Versuch mal, ganz langsam aufzustehen.«
Susan stützte sich auf den Armlehnen des Stuhls ab und drückte sich hoch. Ihr wurde schwummrig. Sie ließ sich wieder sinken.
»Okay«, sagte Sven und breitete Decken über Sil aus. »Lass dir nur Zeit.«
Kurz darauf konnte Susan aufstehen. Sven nahm ihr die Infusion ab und klebte ein weißes Pflaster über die Einstichstelle.
Susan stellte sich ans Ende des Operationstischs. Sven nahm Sil die Decken ab.
»Fass du ihn an den Beinen«, wies er sie an.
Susan packte Sil unter den Knien. Sie fühlte sich schlapp wie ein Waschlappen. Konzentrierte sich. Sie durfte ihn nicht fallen lassen. Sie spannte die Muskeln an und riss sich zusammen. Eine Sekunde später landete Sil sanft auf dem improvisierten Bett. Sven breitete sofort Decken über ihn, sodass nur noch sein Gesicht hervorschaute. Susan hörte Sil atmen. Seine Augen waren geschlossen. Sie schaute mit fragendem Blick von Sil zu Sven.
»Er schläft«, erklärte Sven. »Ich setze uns jetzt mal Kaffee auf, ich leide an akutem Koffeinentzug.«
In der Tür drehte er sich zu ihr um. »Du hast jetzt einen Moment Zeit zum Überlegen. Du bist mir noch eine ausführliche Erklärung schuldig.«
Sie hörte, wie er in die Küche ging, Schränke öffnete und Wasser laufen ließ.
Sie kniete sich neben Sil und legte ihm die Handfläche gegen die Wange.
Seine Haut fühlte sich ein wenig klamm an. Aber wenigstens hatte er wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Er atmete ziemlich flach. Reagierte nicht auf ihre Berührung. Sie näherte ihren Mund seinem Ohr.
»Sil, hörst du mich? Alles wird gut. Du bleibst am Leben.«
Sie stand auf und ging ans Spülbecken. Drehte das heiße Wasser auf. Hielt ein Tuch darunter, wrang es anschließend sorgfältig aus und wischte Sil so vorsichtig wie möglich das geronnene Blut von Stirn und Kinn. Seine Augen waren noch immer geschlossen.
Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Bisher hatte sie nicht geweint. Die ganze Zeit nicht, aber jetzt wurde es ihr zu viel.
»Der Kaffee läuft durch.«
Sven war zurück.
Sie fuhr sich mit der Hand unter der Nase entlang und schniefte. Sie fühlte sich niedergeschlagen, obwohl sie alles getan hatte, was sie nur konnte. Aber sie hatte auch etwas getan, was sie nie für möglich gehalten hatte: Sie hatte einen Menschen ermordet. Kaltblütig.
»Willst du mir jetzt nicht langsam mal erzählen, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Sven.
Sie blickte zu ihm auf.
Er lehnte mit dem unteren Rücken an dem Operationstisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sah lächerlich aus mit seinen nackten, haarigen Beinen, die unter dem grünen langen Kittel hervorschauten. Aber sein Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen. Sven war nicht dumm. Sie würde ihm zumindest einen Teil erzählen müssen. Das war sie ihm schuldig. Sie wusste, dass er sie nicht bei der
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