Verraten
keine Ahnung, wie ich ihm das hier erklären soll.«
Sie legten Sil auf eine provisorische Bahre und hievten ihn auf die Ladefläche des Kleintransporters. Nach einer fünfzehnminütigen, äußerst unkomfortablen Fahrt trugen sie ihn hinauf in Susans Apartment und legten ihn ins Bett. Anschließend fuhr Sven zurück in die Praxis, um aufzuräumen.
Im Stillen taten Susan die Tiere leid, die heute in seine Sprechstunde kommen würden. Oder die operiert werden mussten. Sven war fix und fertig, so viel war klar. Wahrscheinlich hatte er genauso viel geschlafen wie sie, nämlich überhaupt nicht.
Sil dagegen schlief fest. Er lag lang ausgestreckt auf ihrem Bett, einen Arm auf der Bettdecke. Sein Kopf auf ihrem Kissen. Sie lehnte im Türrahmen und schaute ihn an. Sie hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte und ob sie immer noch in Lebensgefahr schwebten. Oder ob mit dem Tod der beiden Männer und der Frau in Almere das Problem, wie Sil es bezeichnete, »endgültig gelöst« war. Zur Sicherheit hatte sie Sils Pistole geladen unter das Bett gelegt. Und das Ding, mit dem sie Anna erschossen hatte, lag in der Küchenschublade. Ebenfalls geladen und entsichert. Dennoch war sie beunruhigt.
Die schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht hatten ihr zu Bewusstsein gebracht, dass sie sich inmitten von braunen Backsteinhäusern und frisch geputzten Fenstern in einer trügerischen Sicherheit gewiegt hatte. Seit sie mit eigenen Augen gesehen hatte, dass ein bekannter und beliebter Sender wie Programs4You in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen stand, war ihr Weltbild für immer erschüttert.
Sie duschte sich, fühlte sich anschließend aber nicht richtig erfrischt. Sie prüfte, ob sie die Haustür wirklich sorgfältig geschlossen hatte, und drehte den Schlüssel noch einmal um. Dann ließ sie die Rollläden im Wohnzimmer herunter und ging ins Schlafzimmer. Sie streckte ihre müden Glieder neben dem schlafenden Sil aus und genoss für einen Moment seine Nähe. War dankbar dafür, dass er noch lebte. Dass er noch da war. Und für einen Augenblick war sie stolz darauf, dass sie nicht passiv abgewartet, sondern auf ihre Intuition gehört hatte und ihm gefolgt war. Dass sie ihre Ängste überwunden hatte und sich nicht von ihnen hatte blockieren lassen.
Die letzte Nacht kam ihr vor wie die allerletzte Folge von Fear Factor, eine Folge, die nie gesendet werden würde. Noch lieber wäre ihr gewesen, wenn sie sich überhaupt nie ereignet hätte. Wenn ihr diese Erfahrung erspart geblieben wäre. Wie hatte Sven neulich gesagt? Auf manche Erfahrungen konnte man gut und gern verzichten.
Sie sank in einen unruhigen Schlaf. Im Traum erschien ihr Annas Gesicht. Sie schrie sie an. Kreischte wie eine Wahnsinnige; streckte ihre Hände nach ihr aus mit gelben Fingernägeln wie lange Klauen. Sie wollte zurückschreien, dass sie aufhören solle. Dass sie weggehen solle. Dass sie tot sei. Sie versuchte, es ihr zu sagen. Aber sie bekam kein Wort über die Lippen.
28
SCHIESSEREI BEI PROGRAMS4YOU FORDERT DREI TOTE
Almere - Ein Sprecher der Polizeibehörde Flevoland bestätigte gestern das Gerücht, dass es in der Nacht von Montag auf Dienstag bei dem Sender Programs4You in Almere eine Schießerei gegeben hat. Bei dem Zwischenfall sind drei Menschen ums Leben gekommen. Bei den Toten handelt es sich um Anna Düring, die Firmenbesitzerin, einen bisher noch nicht identifizierten Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren sowie den 54-jährigen Valentin R. Von dem Ehemann Anna Dürings, Paul Düring, dem Leiter der Produktionsfirma, fehlt bislang jede Spur. Über den genauen Tathergang konnte die Polizei noch nichts mitteilen. Die bekannte Firma Programs4You produziert Sendungen für kommerzielle Fernsehsender sowie öffentliche Sendeanstalten. Die Schwestergesellschaft Annas Theaterproduktionen hat sich internationale Anerkennung mit großen Theaterproduktionen aus dem Ausland erworben, insbesondere aus Russland. Unbestätigten Quellen zufolge sollen über Programs4You illegale Aktivitäten abgewickelt worden sein. Der Sprecher der Polizei wollte diese Gerüchte jedoch nicht bestätigen.
»War das vielleicht eure Party? Oder ist es nur ein dummer Zufall, dass ich dein Motorrad keinen Kilometer von dieser Firma entfernt abholen musste?«, fragte Sven.
Mit blitzenden Augen schaute er von Susan, die auf dem Wohnzimmersofa saß, zu Sil, der in einem gelben Sessel sitzend damit beschäftigt war, sich den Verband von der
Weitere Kostenlose Bücher