Verraten
aus?«, fragte der Alte einen Mann, der bisher noch gar nichts gesagt hatte und der sich ein wenig abseits von den anderen hielt.
»Die Liste ist fast abgearbeitet, Roman. Gib mir noch ein paar Tage.«
Der Alte nickte. »Schön, damit kann ich sie vorerst zufrieden stellen.«
»Hast du denn inzwischen nochmal darüber nachgedacht, was mit meinem Neffen passieren soll?«, fragte Wladimir unvermittelt. »Er ist inzwischen so weit, mehr als die Kleinarbeit zu übernehmen. Und jetzt, wo wir doch zwei Leute verloren haben …«
»Lass ihn vorerst noch ein bisschen nebenher laufen«, brummte Roman. »Bis er sich darüber im Klaren ist, was er wirklich will, können wir nicht viel mit ihm anfangen.«
»Kann ich ihn zur Übergabe der Nutten mitnehmen? Jetzt, wo Dmitrij nicht mehr da ist?«
Der alte Mann warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Davon weiß die Frau doch nichts?«
»Hör zu, Wladimir«, sagte Roman mit mühsam beherrschter Wut. »Die pridurki gehen keinen außerhalb dieser Runde auch nur das Geringste an, verstanden? Das ist kein Zoo da in Venlo. Keiner darf etwas davon wissen, verstanden? Und schon gar nicht dein Neffe!«
Als Wladimir ihn finster anstarrte, fuhr er etwas milder fort: »Du hängst zu sehr an deiner Familie, Wladimir. Das ist dein schwacher Punkt. Du quatschst zu viel mit deinem Neffen. Dadurch fühlt er sich wichtig. Aber dein Neffe ist nicht viel wert. Immer nur das da …« Er vollführte eine Schnappbewegung mit der Hand und schaute sein Gegenüber eindringlich an. »Diese Sorte kenne ich. Ich will ihn nicht dabeihaben.«
Wladimir nickte. Starrte verärgert auf die Tischplatte. Alle schwiegen. Die Spannung war zum Schneiden.
»Hört zu«, sagte Roman. »Ich habe wichtige Fragen an unseren Mann. Falls ihr ihm über den Weg lauft, macht keinen Fehler. Mjortvje molschat - Tote geben keine Antworten mehr.«
Unvermittelt schob er seinen Stuhl zurück, zog seine Krücken unter die Achseln und richtete sich auf.
»Und dass mir jemand diesen Schweinestall aufräumt«, sagte er, während er auf seine Krücken gestützt zur Tür humpelte, dicht gefolgt von dem pockennarbigen Mann.
5
Der Verkehr auf der A 2 in Richtung Norden war vollständig zum Erliegen gekommen. Schon vor einer Stunde war Susan in’s-Hertogenbosch aufgebrochen und immer noch nicht an Utrecht vorbei. Der Himmel sah genauso grau aus wie die Asphaltdecke, und die Autos, die auf der Überholspur vorüberkrochen, hatten die Scheinwerfer eingeschaltet.
Dabei war es erst zwölf Uhr mittags.
»Willkommen zu Hause«, seufzte sie.
Gerade hatte sie im Schritttempo die Abfahrt zur A 27 passiert. Sie hatte die Augen für einen Moment geschlossen und das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Nicht schwach werden!
Bei Breukelen löste sich der Stau wie von selbst auf, und keine halbe Stunde später saß sie an dem quadratischen Tisch, der das Epizentrum der betriebsamen Redaktion von World-Nature bildete. Kopierer, Scanner und Drucker summten und ratterten, Leute liefen mit Fotos, Ausdrucken, Schachteln, Druckfahnen und Disketten in der Hand hin und her. Sie beobachtete Laura, die ihr schräg gegenüber saß und die ausgedruckten Fotos durchging. Wie gewöhnlich blieb das ernsthafte, rundliche Gesicht der Chefredakteurin undurchdringlich. Alle paar Minuten schob sie die Brille mit der dicken Fassung wieder zurück auf die Nase, wobei ihr glattes, graues, zu einem unvorteilhaften Pagenschnitt frisiertes Haar jedes Mal mitwippte. Dann zeigte sie für einen Augenblick tatsächlich so etwas wie Begeisterung.
»Das hier nehmen wir auf eine Doppelseite«, beschloss sie kurzerhand.
Susan stand auf, ging um den Tisch herum und schaute Laura über die Schulter. Auf dem Bild sprang ein Menschenhai aus dem Wasser, das Maul weit aufgerissen. Sie konnte sich an diesen aufregenden Moment noch genau erinnern, der das frustrierende, drei Tage lange Warten und dutzende katastrophal missglückter Aufnahmen mehr als wettgemacht hatte. Die japanischen Wissenschaftler, mit denen sie während dieser ganzen Zeit auf einem Küstenboot zusammengepfercht war, hatten sich riesig für sie gefreut. Abends hatten sie mehrere Flaschen Sake geleert, um ihren lucky shot, wie sie es nannten, zu feiern. Fünf sternhagelvolle Japaner hatten mitten in der Nacht You never walk alone gegrölt - es musste bis an die Küste zu hören gewesen sein. Die Planung für den nächsten Tag war völlig über den Haufen geworfen
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