Verraten
kaum mit, wie er sie hochhob und ins Auto setzte. Als er die Hände auf ihre Beine legte, zog sie sie hastig weg. Er versuchte, ihr eine Locke, die sich gelöst hatte, hinter das Ohr zu schieben, doch sie wandte ruckartig den Kopf ab.
Er unternahm keinen weiteren Versuch, sie zu berühren, aber er schaute sie unverwandt an, als wollte er sie hypnotisieren.
Sie holte ein paarmal tief Luft und schnaufte, aber sie hörte nicht auf zu zittern und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.
Es war schrecklich.
Nach und nach wurde ihr bewusst, was soeben geschehen war. Automatisch begann ihr Gehirn, nach Gründen zu fahnden. Hatte er Drogen genommen? War es wegen Paul? Was war nur in ihn gefahren? So kannte sie ihn überhaupt nicht.
»Geht’s dir wieder besser?«, fragte er schließlich.
Sie explodierte.
»Wie kannst du es wagen, mich zu fragen, wie es mir geht!«
Sie holte aus. Er war nicht darauf gefasst, weshalb ihn der Schlag umso härter traf. Ihre Faust landete mitten in seinem Gesicht, und er wunderte sich über die Kraft, die dahinter steckte. Er fuhr sich über die Wange und rieb die schmerzende Stelle. »Schlag mich nochmal«, sagte er leise. »Los, schlag mich.«
»Und dann? Schlägst du dann zurück? Oder hast du dann einen wirklichen Grund, mich zu vergewaltigen?«, kreischte sie hysterisch. »Du gewinnst ja sowieso, du gewinnst immer. Stimmt’s? Spiele ich denn überhaupt noch eine Rolle? Du kannst nicht mehr normal ausgehen, und jetzt kannst du nicht mal mehr normal bumsen! Du kannst überhaupt nichts mehr normal! Scheißkerl!«
Sie holte erneut aus, aber diesmal war er gewarnt und hielt sie am Arm fest.
»Ruhig. Ganz ruhig. Okay? Ruhig, Alice.« Seine Stimme klang bewegter, als er wollte. »Es ist vorbei. Vorbei.«
Allmählich hatte sie ihre Gefühle wieder einigermaßen im Griff. Ihre Wut wich einer großen Leere, einem tiefen, schwarzen Loch, in das sie hineinzufallen schien.
Wieder fing sie an zu weinen.
Er zog sie aus dem Wagen. Sie zuckte am ganzen Körper, war schlaff wie eine Stoffpuppe. Er hob sie hoch und zog sie an sich.
»Alice«, sagte er leise, begrub sein Gesicht in ihrem Hals und schmeckte das Salz ihrer Tränen. »Ich hab’s nicht so gemeint.«
Es war völlig unsinnig. Er wollte noch »Entschuldigung« hinzufügen, schluckte es aber hinunter. Eine Entschuldigung reichte nicht. Was immer er auch sagen würde, alles wäre unzureichend.
Sie blieben an die fünf Minuten so stehen, im Schein der Innenbeleuchtung des Wagens, die die dunkle Nacht ausgrenzte.
Als er merkte, dass sie sich ein wenig entspannte, hievte er sie wieder auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Er setzte sich ans Steuer und fuhr nach Hause. Unterwegs wechselten sie kein einziges Wort.
Erst als sie in ihre glatt gepflasterte Einfahrt einbogen, fragte sie: »Warum?«
Vor dem Haus schaltete er den Motor ab und wandte ihr sein Gesicht zu. Schaute ihr genau in die anklagenden grünen Augen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Es ist durch nichts zu entschuldigen, Alice. Durch nichts. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Er merkte, dass sie noch etwas sagen wollte, es sich aber noch einmal anders überlegte.
Schweigend gingen sie hinein.
Er zog den Smoking aus, warf die Kleidungsstücke auf den Boden und legte sich mit zwei Kissen im Rücken auf das Bett. Er schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein, die Lautstärke auf null. Gedankenverloren zappte er von einem Sender zum anderen. Auf den meisten priesen die Werbefuzzis Diätkuren, Küchenmesser mit lebenslanger Garantie und Autoshampoo an. Auf Discovery Channel tobte der Zweite Weltkrieg. Ein Weißer rappte auf TMF. Eine Wiederholung der Sportschau auf dem Zweiten.
Er starrte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen.
Er hörte Wasser plätschern. Sie nahm eine Dusche.
Er erkannte, dass er allmählich die Kontrolle über die Situation und sich selbst verlor. Er hätte Paul eine aufs Maul hauen oder ein paar Beulen in seinen dekadenten BMW treten sollen.
Alles wäre besser gewesen als das von eben.
Alles.
Plötzlich erschien Susan vor seinen Augen. Wie sie unter ihm lag, ihre Lippen halb geöffnet, ihre braunen Augen verhangen, sehnsüchtig. Ihr welliges, braunes Haar auf dem roten Leder des Sofas ausgebreitet. Er verspürte eine immense unterschwellige Spannung, die er in den vergangenen Tagen ständig unterdrückt hatte. Hörte Susans Stimme in seinem Handy, verzerrt durch die schlechte Verbindung, die
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