Verraten
empfand, in Momenten, in denen es offenbar von ihm erwartet wurde. Ein Mime, der ohne Begeisterung seine Rolle spielte.
Nur dass diese Rolle sein Leben war, in dem das unterschwellige Unbehagen jeden Tag an Boden gewann, wie eine schleichende Krankheit, die langsam, aber sicher sein gesamtes Handeln bestimmte. Er funktionierte noch, das schon. Aber es war, als sei er von einer Watteschicht umgeben, die die Reize von außen filterte. Er verlor immer mehr das Interesse für die Menschen in seiner Umgebung.
Es dauerte lange, bis er es wahrhaben wollte. Der Moment kam auf einer Überraschungsparty, die seine Mitarbeiter anlässlich des ersten multinationalen Kunden, den sie an Land gezogen hatten, für ihn organisiert hatten. Von allen Seiten wurde ihm die Hand geschüttelt, auf die Schulter geklopft und zu seiner Leistung gratuliert. Er hatte nichts dabei empfunden und so gezwungen reagiert, als beobachte er sich selbst aus einer gewissen Distanz heraus in dieser Situation. Inmitten der ausgelassenen Belegschaft, als der Champagner in Strömen floss, wurde ihm klar, dass ihm das alles völlig gleichgültig war. Er war zu einem Außenseiter in seinem eigenen Leben geworden.
Noch am selben Abend hatte er eine Entscheidung getroffen und von seinem Büro aus einen Konkurrenten angerufen. Schon eine knappe Woche später war Sagittarius in anderen Händen, und er fühlte sich freier denn je. Doch das sollte nur der erste Schritt sein auf dem Weg nach mehr Lebendigkeit, mehr Inhalt. Der zweite Schritt hieß Weggehen. Weg aus den Niederlanden.
Doch er hatte die Rechnung ohne Alice gemacht. Sie war völlig außer sich gewesen.
Wenn er sie nicht mehr geliebt hätte, wäre alles ganz einfach gewesen. Dann hätte er die Tür hinter sich zugezogen. Aber er liebte sie. Deshalb war er geblieben. Und er hatte ihr versichert, dass sich an ihrem Leben nichts ändern würde. Nicht, wenn sie es nicht selbst wollte. Und bis dato hatte das einigermaßen funktioniert. Er hatte seine eigene Methode gefunden, den trüben Nebel in seinem Kopf zu vertreiben und das Gefühl zu haben, dass er lebendig war und sein Leben selbst bestimmen konnte, im Hier und Jetzt. Auch wenn es immer nur für kurze Zeit war.
Doch damit war es vorbei gewesen, als er Susan kennen gelernt hatte. Durch sie war ihm bewusst geworden, dass seine Liebe zu Alice weniger tief war, als er geglaubt hatte.
Er wusste, dass er aus dieser Sackgasse herauskommen musste. Er hatte schon zu lange mit sich gerungen. Versucht, wie früher in seiner Mansarde in Utrecht, ein Programm zu entwickeln, in dem sich alles nahtlos ineinanderfügte, sich zu einem einheitlichen und logischen Gesamtbild ergänzte. Doch nachdem er letzten Freitag derart die Beherrschung verloren hatte, musste er einsehen, dass das nicht möglich war. Er verrannte sich in einem Labyrinth ohne Ausgang. Er musste eine Wahl treffen. Aber welche? Eine hartnäckige Stimme in seinem Hinterkopf kannte die Antwort. Die Antwort, die die ganze Zeit da gewesen war, unterdrückt von seinem Verstand.
Es war drei Uhr nachmittags. Sie hatte noch nichts zu Stande gebracht. Dabei türmten sich so viele zu erledigende Dinge wie ein Berg vor ihr auf. Leidige Haushaltspflichten häuften sich ebenso wie die ungeöffnete Post. Mahnungen und Rechnungen, die bezahlt werden mussten, Formulare, die ausgefüllt, und Mitteilungen, die gelesen werden wollten. Das Badezimmer war übersät mit Sachen, die aus ihren Reisetaschen gequollen waren. Sie verbreiteten allmählich einen Geruch, der sie entfernt an Reno erinnerte. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kleidung in die Waschmaschine zu stecken, aber alles war ihr zu viel. Sie fühlte sich leer und ließ sich gehen. Zahllose Male hintereinander hörte sie sich Missing you von Everything But The Girl an. Sie vergaß zu essen und zu trinken. Irgendwann ging sie ins Bad und fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar. Verließ das Haus. In der Hoffnung, dass Reno diesen trüben Tag ein wenig aufhellen könnte.
Durch das Hinthamereinde waren es nur zehn Minuten zu Fuß bis zu dem ehemaligen Lagerhaus. In diesem Winkel der Altstadt waren die Großunternehmen, die allmählich so vielen Städten Europas ihren uniformen Stempel aufdrückten, noch nicht vorgedrungen. Dutzende kleine Läden verliehen dieser Gegend ihr eigenes Gesicht. Es gab ein Geschäft für Zauberartikel, einen Secondhandladen, einen Bäcker, einen altmodischen Fahrradhändler und einen Tattooshop. Die unterschiedlichsten Betriebe
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