Verraten
Akzeptablen.
Sie sollte sie bekommen, genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Ich habe keine Lust, mir die Prospekte anzuschauen«, sagte er, während er in einem Sessel Platz nahm, der etwa fünf Meter vom Sofa entfernt stand. »Sie wollte einen weißen Sarg, hochglanzpoliert.«
Der Mann machte sich Notizen auf seinem Schreibblock. »Wünschen Sie Blumenschmuck auf dem Sarg?«
Sil nickte. »Ein rautenförmiges Bukett mit den schönsten dunkelroten Rosen, die Sie auftreiben können.«
»Welche Musik hatten Sie sich vorgestellt?«
Er überlegte kurz. Das letzte Mal, dass er auf einer Trauerfeier gewesen war, lag Jahre zurück, aber er wusste noch, dass ihn die abgenudelte Trauermusik unheimlich gestört hatte, die Ave Marias und die Trauermärsche, die sich über die schlechten Musikanlagen, die für Trauerhallen typisch zu sein schienen, noch schlimmer anhörten. Vielleicht hatte sich die Tonqualität inzwischen verbessert. Vielleicht aber auch nicht.
»Ich möchte, dass Sie ein Zigeunerorchester engagieren«, verlangte er. »Es soll Caravan und ein paar ähnliche Stücke spielen. Sorgen Sie dafür, dass es keine abgehalfterten Kirmesmusikanten sind, sondern gute Musiker, die mit Gefühl spielen.«
Der Mann runzelte besorgt die Stirn. »Das wird nicht einfach. Schließlich ist es recht kurzfristig.«
»Ist es denn nicht immer kurzfristig?«, erwiderte Sil gereizt. »Oder gibt es vielleicht Leute, die schon ein paar Wochen vorher wissen, wann sie sterben, und die Ihnen schon im Voraus die exakten Daten und ihre genauen Wünsche mitteilen?«
Der Mann rutschte auf dem Sofa hin und her.
»Hören Sie zu«, fuhr Sil fort und deutete aggressiv mit dem Zeigefinger auf den Bestatter. »Es interessiert mich keinen Deut, wie viel Mühe es macht oder wie viel Geld es kostet, und wenn Sie Leute dafür einfliegen müssen, dann tun Sie es! Alice wird nur einmal beerdigt, es wird kein zweites Mal geben. Sorgen Sie also dafür, dass alles hundertprozentig perfekt ist!«
Der Bestattungsunternehmer warf ihm einen ziemlich nervösen Blick zu.
Sil fand ihn unerträglich.
»Sie möchten sicher auch Trauerkarten verschicken?«
Sil wollte das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er empfand ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, den Mann zu würgen. Ihm seine Bücher mit den Abbildungen eines nach dem anderen in den Rachen zu rammen. Zugleich war ihm bewusst, dass es seine entsetzliche Ohnmacht war, die sich auf unangemessene Art ein Ventil suchte. Dass dieser Mann nichts dafür konnte und einfach nur seine Arbeit tat.
Seine geruhsame, einfache Aasgeierarbeit.
»Diesen Service können wir für Sie übernehmen.«
»Gut«, sagte Sil und sprang auf. »Ich drucke Ihnen eine Adressliste aus.«
Er ging in sein Arbeitszimmer. War froh, aus dem Wohnzimmer zu entkommen. Er startete seinen PC und druckte die Weihnachtskarten-Adressliste aus, die Alice sorgfältig auf dem aktuellen Stand gehalten hatte. Sie hatte ein effektives System dafür entwickelt: Bereits Anfang Dezember verschickte sie die Karten und hakte in den kommenden Wochen die Namen derer ab, die eine Karte zurückschickten. Alle, die nicht antworteten, wurden resolut von der Liste gestrichen, sodass die Daten jedes Jahr aktualisiert wurden. Dieses Jahr würde keine einzige Weihnachtskarte verschickt werden, dachte er. Garantiert nicht. Er hatte die Notwendigkeit sowieso nie eingesehen.
Während der Laserdrucker leise summend ein Blatt nach dem anderen aus seinen elektronischen Eingeweiden herausschob, fiel ihm ein, dass er Alice’ Eltern noch nicht angerufen hatte. Das war nachlässig von ihm. Er nahm sich vor, das sofort zu erledigen, nachdem sich dieser Aasgeier getrollt hatte.
Es war schon fast zwei Uhr, als der Bestatter sich mit einem feuchten Händedruck verabschiedete und ihm versicherte, dass alles nach seinen Wünschen geregelt werden würde. In Gedanken versunken kehrte Sil ins Arbeitszimmer zurück und suchte die Telefonnummer seiner Schwiegereltern heraus. Er rief sie so gut wie nie an.
Alice’ Eltern wohnten seit der Frühpensionierung ihres Vaters im spanischen Benidorm, wie zehntausende andere niederländische und englische Pensionäre und Frührentner auch. Alice und er waren in all der Zeit nur ein einziges Mal dort gewesen. Für einen Tag. Mehr hätte er nicht geschafft, ohne völlig durchzudrehen.
Sie lebten in einem verwohnten Zweizimmerapartment mit Aussicht auf hunderte andere, ebenso trostlose kleine Wohnungen in
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