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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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großen, hässlichen Mietskasernen. Wenn man sich auf dem winzigen Balkon, der diesen Namen kaum verdiente, halsbrecherisch verrenkte, konnte man einen Blick auf den kahlen, gelbbraunen Bergrücken jenseits der Autobahn erhaschen. Abends war der Boulevard buchstäblich grau vor Menschen. Männer in grauen Hosen und passenden Hemden und Frauen in Nylonkleidern mit Blumenmotiven auf dem Weg zum Bingoabend oder zum Seniorentanz. Abende, die, wie Alice und Sil am eigenen Leib erfahren hatten, musikalisch von heruntergekommenen Typen auf verstimmten Heimorgeln untermalt wurden. Außerhalb der Hochsaison war Benidorm eine Enklave für Senioren über fünfundsechzig - ein Freiluftaltersheim. Sil gönnte jedem das seine, aber nirgendwo auf der Welt hatte er eine derart beklemmende Atmosphäre erlebt, die ihn so erbarmungslos mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontierte. Und was ihn noch mehr bedrückte: dieser scheinbar unvermeidliche Dämmerzustand, der dem Tod vorausging. Am nächsten Morgen hatten sie sich eine Ausrede ausgedacht, um wegzukönnen, und waren ohne Pause durchgefahren bis an die Küste Südfrankreichs, wo das pralle Leben herrschte und die Leute schön, reich und gesund waren. Wo er wieder freier atmen konnte.
    Nachdenklich betrachtete er die lange Telefonnummer. Zögerte einen Moment. Alice hatte nie einen wirklich innigen Kontakt zu ihren Eltern gehabt. Zwar war ihre Jugend lange nicht so schrecklich gewesen wie seine, aber sie war keineswegs zum Spaß schon mit siebzehn aus ihrem Elternhaus geflüchtet. Inniger Kontakt oder nicht - ihre Eltern mussten die Chance erhalten, der Beerdigung ihrer Tochter beizuwohnen.
    Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kinn und wählte die Nummer. Kurz darauf nahm Alice’ Vater ab.
    »Hallo, ich bin’s, Sil. Ich muss euch leider etwas sehr Schlimmes mitteilen.«
    Stille.
    »Alice hatte einen Autounfall.«
    »Wie geht es ihr?«
    Es spielte keine Rolle, ob er es ihnen knallhart oder schonend beibrachte.
    »Sie ist tot.«
    »Mein Gott …«
    Er ließ dem alten Mann kaum Zeit, sich von dem Schock zu erholen. »Sie wird am Freitag eingeäschert.«
    Wieder trat eine kurze Stille ein. Dann sagte der Mann zögernd: »Sil, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber die Kosten für … Na ja, wir versuchen einfach, uns etwas zu leihen.«
    Die Botschaft war deutlich. Da haben wir’s wieder, dachte er. Sogar in einer Situation wie dieser konnten diese Leute an nichts anderes denken als an Geld. Sie konnten diese verdammten Spargroschen, auf denen sie hockten, demnächst allesamt mitnehmen ins Grab. Ihre einzige Erbin konnte sie nicht mehr für sie aufbrauchen. Er musste sich beherrschen, um den alten Mann nicht anzufahren.
    »Gib mir eure Kontonummer, dann überweise ich euch telefonisch etwas.«
    Ein erleichterter Seufzer am anderen Ende der Leitung.
    Sil hielt das Gespräch so kurz wie möglich und vereinbarte, dass sich die beiden auf seine Kosten von Schiphol aus ein Taxi nehmen sollten und er ein Hotelzimmer für sie reservieren würde. Dann legte er auf und wählte die Nummer seiner Bank, erteilte einem Angestellten Anweisungen, eine bestimmte Summe nach Spanien zu überweisen, und buchte, da er schon einmal dabei war, gleich ein Zimmer in einem Mittelklassehotel in Zeist.
    Er starrte auf den Computerbildschirm. Dachte an Susan und fühlte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
    Sollte er sie anrufen?
    Es gab niemanden auf der ganzen Welt, mit dem er jetzt lieber geredet hätte.
    Niemanden.
    Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Verdammt, dabei war Alice noch nicht einmal beerdigt. Er seufzte tief. Vielleicht sollten sie eine Weile Abstand voneinander halten. Ja, das erschien ihm das Beste. Er klickte das Outlook-Express-Icon an und schrieb eine kurze E-Mail, die er widerstrebend abschickte.
    Erst gegen Mitternacht machte sich Sil zum Zubettgehen bereit. Nicht, dass an Schlaf zu denken war. Es war eher ein armseliger Versuch, eine Art Rhythmus wiederzufinden. Ein erster Ansatz dazu.
    Als er an der Haustür vorbeiging, fiel sein Blick auf das Päckchen, das ihm der Kurier heute Mittag ausgehändigt hatte. Es lag noch immer auf dem Tischchen neben der Tür. Er nahm es in die Hand. Es war eine flache Schachtel, mehr ein veredelter Pappumschlag, wie man sie vom Internetbuchhandel kennt. Vom Format her hätte es tatsächlich ein Buch sein können, aber dafür war es zu leicht. Auf dem Adressaufkleber, die Kopie einer Kopie, stand ein Absender in so undeutlichen

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