Verraten
irgendwie blöd, mit einer ungeladenen Waffe auf die Schießscheibe zu zielen.
»So«, sagte er. »Das ist aber ganz schön gefährlich.«
Sie schaute ihn fragend an.
»Du hast den linken Daumen hinter den Schlitten gelegt. Der fährt bei jedem Schuss mit einer Mordsgeschwindigkeit nach hinten und, glaub mir, das Metall gibt keinen Millimeter nach. Wenn da also dein Daumen im Weg ist, wird unter Garantie ein Stück herausgerissen.«
Sie nickte und legte den Daumen auf die linke Seite der Waffe, neben ihren rechten Daumen.
»Genau«, sagte er. »So ist es besser. Und so zielt man: Du schaust über den Schlitten nach vorn, in Richtung der Schießscheibe. Oben auf dem Lauf befinden sich Fortsätze, siehst du die?«
Sie nickte.
»Die vorne auf dem Lauf, das ist das Korn, und die beiden anderen am Ende mit einem Zwischenraum in der Mitte heißen Kimme. Versuche, das Korn genau in die Mitte und auf dieselbe Höhe der Kimme zu bringen. Je exakter Kimme und Korn auf einer Linie liegen, desto größer ist die Chance, dass du das triffst, worauf du zielst.«
Sie zielte und sah, was er meinte. Aber es war gar nicht so einfach. Ihre Hände zitterten so, dass der kleine Fortsatz immer wieder aus der Mitte der beiden anderen verschwand.
»Meine Hände zittern.«
»Das ist ganz normal. Durch Übung lernt man, sie ruhig zu halten. Und durch kontrolliertes Atmen.«
Susan nickte. Das war nichts Neues für sie. Ganz kurz, für den Bruchteil einer Sekunde, den Atem anzuhalten, um ein scharfes Foto zu schießen, war ihr zur zweiten Natur geworden. Sie hatte schon viele Kollegen mit einer weniger sicheren Hand schwere Stative mit sich herumschleppen sehen, aber sie selbst kam fast immer ohne Hilfsmittel aus. Dass ihre Hände jetzt zitterten, hatte gewiss psychologische Gründe. Das hier war keine Kamera. Das war eine Waffe. Aber das Prinzip war dasselbe. Zielen und schießen. Es musste ganz ähnlich sein. Sie beschloss, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren.
»Am besten atmest du zuerst ein«, sagte Sven. »Dann zielst du, atmest halb aus, hältst den Atem an und schießt. Am besten innerhalb von fünf Sekunden, denn sonst musst du wieder von vorn anfangen.«
Sie versuchte es mehrmals. Das Zittern wurde schon weniger.
»Okay«, sagte er. »Willst du es mal versuchen?«
Sie nickte.
Er drückte auf einen Knopf in der Trennwand und rasend schnell kam an hängenden Schienen ein großer, schwarzer Pappkarton angesegelt, der knapp einen halben Meter vor ihnen abrupt anhielt. Susan wich unwillkürlich zurück. Sven befestigte mit Abklebeband eine Schießscheibe auf der Pappe, drückte erneute auf einen Knopf und der Karton wurde in demselben Tempo wieder zurückkatapultiert.
»Zwölf Meter«, sagte er. »Weniger ist hier nicht möglich. Aber das ist gut zu schaffen. Viel Erfolg.«
Susan nahm die geladene, entsicherte Waffe in beide Hände, achtete darauf, dass beide Daumen seitlich anlagen und konzentrierte sich. Atmete ein. Zielte. Atmete ein wenig aus. Hielt den Atem an. Schoss.
Sven hatte Recht. Der Rückschlag war nicht zu unterschätzen. Die Scheibe hatte sie wohl nicht getroffen. Es war schwer zu erkennen auf diese Entfernung. Sie schaute Sven an. Er nickte, und sie schoss noch einmal.
»Schieß ruhig fünfmal hintereinander«, sagte er.
Sie schoss noch dreimal und legte die Waffe vor sich auf die Ablage. Sven drückte auf einen Knopf, und innerhalb von einer Sekunde war die Scheibe in Griffweite.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Na, so was!«
»Wie, ›na, so was‹?«
»Schau doch mal!«
In der Schießscheibe waren vier Löcher von einem halben Zentimeter Durchmesser, zwei von ihnen nicht weit vom Mittelpunkt entfernt.
»Zeig das bloß niemandem hier«, sagte er. »Ehe du dich versiehst, rekrutiert dich jemand für Wettkämpfe.«
Sie lächelte. »War das denn gut?«
»Ja«, sagte er, »sehr gut sogar. Hast du wirklich noch nie geschossen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin Fotografin, erinnerst du dich? Vielleicht liegt es daran.«
»Das wird’s sein«, sagte Sven und klebte eine neue Scheibe auf die schwarze Pappe.
Eine Stunde später standen sie immer noch am Schießstand, und Susan traf mit der kleinkalibrigen Vereinspistole mindestens vier von fünf Mal die Schießscheibe. Um sie herum wurde es allmählich ruhiger. Die meisten Schützen verschwanden in die Kantine oder gingen nach Hause.
»Okay«, sagte Sven und blickte sich um. »Genug gespielt.« Er drückte ihr eine schwere Pistole in
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