Verr�ter wie wir
Scheißangst vor Papa, dass er Natascha einfach am Bahnhof rauslässt, und tschüs! Er fragt nicht, warum. Er geht einkaufen. Wenn sie nie mehr zurückkommt, kann ja er nichts dafür. Papa hat’s gesagt, also macht er’s, also ist es nicht seine Schuld!«
»Und woher wisst ihr, dass sie nicht in ihrer Reitstunde war?«, fragte Gail, nachdem sie ihre Zeugenaussagen soweit abgewägt hatte.
»Ja, Viktor?«, sagte Perry rasch, bevor Alexej wieder loslegen konnte.
»Weil die Reitschule angerufen hat, wo sie bleibt«, sagte Viktor. »Kostet hundertfünfundzwanzig die Stunde, sie hat nicht abgesagt. Sie war für dieses Dressurzeugs angemeldet, die hatten das Pferd schon gesattelt und alles. Also rufen wir Igor auf dem Handy an. Wo ist Natascha? Am Bahnhof, sagt er, Befehl von eurem Papa.«
»Was hatte sie an?«, fragte Gail den aufgelösten Alexej, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlte.
»Schlabbrige Jeans. Und so einen Russenkittel. Wie ein Kulak. Sie hat fast nur noch so Labberzeug an. Sie mag’s nicht, wenn ihr die Jungs auf den Arsch schauen, sagt sie.«
»Hat sie irgendwelches Geld?« – immer noch zu Alexej.
»Papa gibt ihr alles, was sie will. Er verwöhnt sie total! Wir kriegen vielleicht hundert im Monat, sie so was wie fünfhundert. Für Bücher, Kleider, irgendwelche Schuhe, diesie sich einbildet. Letzten Monat hat er ihr eine Geige gekauft. Geigen kosten irgendwie Millionen.«
»Und ihr habt alle versucht, sie anzurufen?« – Gail, nun wieder an Viktor gewandt.
»Mehrmals«, sagt Viktor, ganz der besonnene, gereifte Mann jetzt. »Einer nach dem anderen. Alexej von seinem Handy, ich von meinem. Katja, Irina. Nichts.«
Gail besinnt sich auf Tamara in ihrer Ecke: »Und Sie? Haben Sie’s versucht?«
Auch von Tamara: nichts.
Gail zu den vier Kindern: »Vielleicht geht ihr mal alle nach nebenan, während ich mich mit Tamara unterhalte. Falls Natascha sich meldet, muss ich sie als Erste sprechen. In Ordnung?«
* * *
Stühle gab es in Tamaras dunkler Ecke sonst keine, deshalb zog Perry eine Holzbank mit zwei geschnitzten Bären als Füße heran, und sie setzten sich nebeneinander darauf und sahen zu, wie Tamaras kleine schwarze Augen zwischen ihnen hin und her glitten, ohne einen von ihnen anzublicken.
»Tamara«, sagte Gail. »Warum will Natascha ihrem Vater nicht begegnen?«
»Sie wird ein Kind haben.«
»Hat sie Ihnen das erzählt?«
»Nein.«
»Aber Sie haben es bemerkt.«
»Ja.«
»Seit wann schon?«
»Das ist unwesentlich.«
»Aber bereits in Antigua?«
»Ja.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Nein.«
»Und mit ihrem Vater?«
»Nein.«
»Warum haben Sie mit Natascha nicht darüber geredet?«
»Ich hasse sie.«
»Hasst sie Sie auch?«
»Ja. Ihre Mutter war Hure. Jetzt ist Natascha Hure. Es ist nicht überraschend.«
»Was passiert, wenn ihr Vater es erfährt?«
»Vielleicht er wird sie noch mehr lieben. Vielleicht er bringt sie um. Das liegt bei Gott.«
»Wissen Sie, wer der Vater ist?«
»Vielleicht sind es viele Väter. Von der Reitschule. Von der Skischule. Vielleicht ist es der Briefträger, vielleicht Igor.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo sie sein könnte?«
»Ich bin nicht die Vertraute von Natascha.«
* * *
Draußen im Hof hatte es zu tröpfeln begonnen. Auf der Koppel stießen die beiden hübschen Braunen sacht die Köpfe gegeneinander. Gail, Perry und Ollie standen im Schutz des Pferdetransporters. Ollie hatte mit Luke telefoniert. Luke hatte nicht frei sprechen können, weil Dima bei ihm im Auto saß. Aber die Botschaft, die Ollie jetzt weitergab, war unmissverständlich. Seine Stimme blieb ruhig, aber sein nicht ganz astreines Cockney litt merklich durch die Anspannung.
»Wir sollen weg hier, und zwar dalli. Es sind Komplikationen aufgetreten, und wir können die Flotte nicht wegen einem einzigen Schiff am Auslaufen hindern. Natascha hat alle Handynummern, und wir haben Nataschas. Luke will nicht, dass wir Igor in die Arme laufen, also werden wir das schönbitte unterlassen. Er sagt, Sie müssen jetzt sofort alle an Bord bringen, Perry, und dann hauen wir ab. Alles klar?«
Perry war schon wieder halb beim Haus, als Gail ihn beiseitezog.
»Ich weiß, wo sie ist«, sagte sie.
»Du scheinst so einiges zu wissen, was ich nicht weiß.«
»So viel auch wieder nicht. Genug. Ich fahre und hole sie. Ich möchte, dass du mich unterstützt. Kein Heldengehabe, kein Beschützer-Quatsch. Du und Ollie bringt die anderen weg, ich komme mit Natascha
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