Verr�ter wie wir
nahmen, eine vom Stall her und eine vom Haus. Igors Zuständigkeit vermutlich, aber Igor war auf Einkaufstour.
Perry klingelte, und nichts rührte sich. Die Stille kam Gail so unnatürlich vor, dass sie selbst noch einmal auf den Knopf drückte. Vielleicht war die Klingel ja kaputt. Sie klingelte einmal lang und dann mehrmals kurz, um die Hausbewohner aufzuscheuchen. Und es wirkte – Füße trappelten, Riegel wurden zurückgeschoben, ein Schlüssel gedreht, und vor ihnen stand einer der strohblonden Zwillinge: Viktor.
Aber statt mit dem erwarteten breiten Grinsen empfing Viktor sie mit einem ratlosen, angespannten Ausdruck auf seinem sommersprossigen Gesicht.
»Habtihr sie?«, fragte er in seinem Internats-Amerikanisch.
Er fragte es Perry, nicht Gail, denn mittlerweile hatten sich Katja und Irina an ihm vorbeigezwängt, und Katja hatte eins von Gails Beinen umschlungen und drückte ihren Kopf daran, und Irina streckte beide Arme zu Gail hinauf.
»Meine Schwester. Natascha! «, rief Viktor Perry ungeduldig entgegen, mit einem argwöhnischen Blick zu dem Pferdetransporter hinüber, als könnte sie darin versteckt sein. »Habt ihr Natascha gesehen, Himmelherrgott?«
»Wo ist deine Mutter?«, fragte Gail und löste sich aus der Umklammerung der Mädchen.
Sie folgten Viktor durch einen holzgetäfelten, nach Kampfer riechenden Gang in ein Wohnzimmer mit niedriger Balkendecke und abgesenktem Sitzbereich. Terrassentüren führten in den Garten und die angrenzende Koppel hinaus. Im dunkelsten Winkel saß zwischen zwei Lederkoffern verschanzt Tamara, auf dem Kopf einen schwarzen Hut, vor dem ein Stück Schleier herabhing. Als Gail sich ihr näherte, sah sie durch den Schleier hindurch, dass sie ihr Haar mit Henna gefärbt und Rouge aufgelegt hatte. In Russland, hatte Gail irgendwo gelesen, ist es Brauch sich hinzusetzen, ehe man eine Reise antritt, und vielleicht war das der Grund, warum Tamara saß und auch sitzen blieb, als Gail vor ihr stand und ihr in das starre, geschminkte Gesicht blickte.
»Was ist mit Natascha?«, fragte Gail.
»Wir wissen es nicht«, antwortete Tamara der Luft vor ihrem Gesicht.
»Wie das?«
An diesem Punkt rissen die Zwillinge das Wort an sich, und Tamara war fürs Erste vergessen.
»Sie ist in die Reitschule gegangen und nicht mehr zurückgekommen!«, meldete Viktor.
»Ist sie nicht, sie hat bloß gesagt, sie will in die Reitschule.Sie hat’s bloß gesagt, Blödmann! Sie lügt, das weißt du ganz genau!« – Alexej, der hinter seinem Bruder ins Zimmer gepoltert war.
» Wann ist sie in die Reitschule gegangen?«, unterbrach Gail.
»Heute früh. Richtig früh. Um acht schon!«, kam Viktor Alexej zuvor. »Sie musste zu einem Termin. Irgend so einer Vorführstunde im Dressurreiten. Papa hatte vielleicht zehn Minuten vorher angerufen und gesagt, wir müssen mittags alle fertig sein. Natascha hat gesagt, sie hat diesen Termin in der Reitschule. Sie muss unbedingt hin, es ist unumstößlich , hat sie gesagt!«
»Also ist sie hingegangen?«
»Na sicher. Igor hat sie mit dem Volvo gebracht!«
»Schwachsinn!« – Alexej wieder. »Igor hat sie nach Ber n gebracht. Sie sind überhaupt nicht in die Scheißreitschule, du Blödmann! Natascha hat Mama angelogen! «
Gail die Anwältin schritt ein: »Igor hat sie in Bern abgesetzt? Wo dort?«
»Am Bahnhof!«, trompetete Alexej.
»An welchem Bahnhof, Alexej?«, fragte Perry streng. »Ganz ruhig jetzt. An welchem Bahnhof in Bern hat Igor Natascha abgesetzt?«
»Am Hauptbahnhof! Wo alle Züge weggehen, verdammt! Überallhin. Züge nach Paris! Budapest! Nach Moskau!«
»Weil Papa es ihr gesagt hat, Professor«, berichtete Viktor, seine Stimme jetzt gesenkt in bewusstem Gegensatz zu Alexejs hysterischem Tonfall.
» Dima soll ihr das gesagt haben, Victor?« – Gail.
»Dima hat ihr gesagt, sie soll zum Bahnhof fahren. Sagt Igor. Soll ich Igor anrufen, und Sie reden mit ihm?«
»Kann er doch nicht, du Vollidiot! Der Professor kann doch kein Russisch!« Alexej war inzwischen den Tränen nahe.
Perrywieder, so bestimmt wie zuvor: »Viktor – gleich, Alexej –, Viktor, sagst du das bitte noch mal, aber langsam? Alexej, ich hör dir zu, sobald Viktor ausgeredet hat. Also, Viktor.«
»Igor sagt, das hätte sie ihm gesagt und deshalb hätte er sie zum Hauptbahnhof gefahren. ›Mein Vater sagt, ich muss zum Hauptbahnhof.‹«
»Und Igor ist auch ein Idiot! Er fragt ja nicht mal, warum!«, rief Alexej. »Er ist zu dämlich dafür. Er hat so eine
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