Verr�ter wie wir
Morgensonne glänzte, dass Perry sich gefragt hatte, ob er eingeölt war. Die brillantenstarrende Rolex hatte Gesellschaft bekommen; um den mächtigen Hals lag jetzt eine geheimnisträchtige Goldkette mit vielen Anhängern: noch mehr Glitzern, noch mehr Ablenkung.
Dabei war Dima, sehr zu Gails Überraschung, gar nicht der Hauptblickfang, sagte sie. Auf der Zuschauertribüne hinter ihm aufgereiht saß eine kleine und, so Gail, absolut schräge Versammlung von Kindern und Erwachsenen.
»Wie ein Haufen trister Wachsfiguren«, unterstrich sie. »Aber nicht nur, weil sie überhaupt da waren zu dieser unchristlichen Zeit, und dazu noch so aufgeputzt. Sondern weilsie so völlig stumm und griesgrämig dasaßen. Ich habe mich in die unterste Reihe gesetzt, die leer war, und gedacht, guter Gott, wo bin ich denn da reingeraten? In ein Volkstribunal? Einen Bittgang?«
Selbst die Kinder schienen nichts voneinander wissen zu wollen. Sie waren ihr sofort aufgefallen. Das ging ihr immer so. Vier Stück waren es.
»Zwei furchtbar tragisch dreinschauende kleine Mädchen von vielleicht fünf und sieben in dunklen Kleidchen und Sonnenhüten, die eng aneinandergeschmiegt neben einer üppigen Schwarzen saßen, einer Art Nanny offenbar«, sagte sie, entschlossen, ihre Gefühle nicht vorzeitig mit ihr durchgehen zu lassen. »Und zwei strohblonde halbwüchsige Jungen mit Sommersprossen und Tenniszeug. Und alle mit so langen Gesichtern, dass man denken konnte, sie wären als Strafe aus dem Bett geprügelt und hierhergeschleift worden.«
Während die Erwachsenen, fuhr sie fort, einfach so fremdartig waren, so überdimensional und so anders , als kämen sie aus einem Charles-Addams-Cartoon. Und das lag nicht nur an ihrer städtischen Kleidung und den Siebziger-Jahre-Frisuren. Oder daran, dass die Frauen trotz der Hitze für den tiefsten Winter gewandet waren. Es lag an ihrer kollektiven Düsterkeit.
»Warum sagt keiner was?«, flüsterte sie Mark zu, der sich ungebeten auf dem Sitz neben ihrem eingefunden hatte.
Mark zuckte die Achseln. »Russen.«
»Aber Russen sind doch Weltmeister im Reden!«
Nicht diese Russen, sagte Mark. Die meisten von ihnen seien erst ein paar Tage hier und müssten sich noch akklimatisieren.
»Irgendwas scheint bei denen vorgefallen zu sein« – er reckte das Kinn Richtung Bucht. »Nach dem Krach zu urteilen, haben die da drüben Familienrat im großen Stil, und nicht grade harmonisch. Fragen Sie mich nicht, wie diedas hygienetechnisch hinkriegen. Das halbe Leitungssystem ist hinüber.«
Gail deutete auf zwei dicke Männer, einer mit einem braunen Filzhut auf dem Kopf und Handy am Ohr, der andere in einer Schottenmütze mit rotem Bommel.
»Vettern von Dima«, sagte Mark. »Die sind alle irgendwie verwandt und verschwägert. Kommen aus Perm. Perm, wie Permafrost, verstehen Sie?«
Eine Reihe höher dann die strohblonden Teenager, die mit angewiderten Mienen Kaugummi kauten. Dimas Söhne, erklärte Mark, Zwillinge. Und ja, nun da Gail noch einmal hinsah, entdeckte sie die Ähnlichkeit: kräftiger Brustkorb, gerader Rücken, hängelidrige braune Schlafzimmeraugen, die bereits heimlich in Gails Richtung wanderten.
Rasches, lautloses Durchatmen. Was jetzt kam, hieß bei ihnen in der Kanzlei die Abschussfrage, die Frage, die den Zeugen ein für alle Mal zerlegte. Zerlegte sie sich jetzt also selbst? Aber als sie weitersprach, stellte sie befreit fest, dass in der Stimme, die von der Ziegelwand zu ihr zurückhallte, kein Beben zu hören war, kein Stocken oder sonst eine verräterische Schwankung.
»Und in züchtigem Abstand zu allen anderen – demonstrativ, hatte ich fast den Eindruck – saß diese bildhübsche Fünfzehn- oder Sechzehnjährige mit schulterlangen kohlschwarzen Haaren, Schulbluse und einem marineblauen Schulrock, der ihr bis übers Knie ging, und sie schien zu gar niemandem zu gehören. Also habe ich Mark gefragt, wer sie ist. Natürlich.«
Sehr natürlich, allerdings, befand sie erleichtert, nachdem sie sich zu Ende angehört hatte. Nicht eine erhobene Augenbraue am Tisch. Gut gemacht, Gail.
»Sie heißt Natascha, eröffnete mir Mark. Ein Blümchen, das gepflückt sein will – nichts für ungut, höhö. Dimas Tochter, aber nicht Tamaras. Der Augapfel ihres Vaters.«
Undwas, so fragte Gail ihre Zuhörer, macht die schöne Natascha, Tochter von Dima, aber nicht von Tamara, um sieben Uhr morgens, statt ihren Vater beim Tennis zu bewundern? Liest völlig vertieft in einem ledergebundenen
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