Verr�ter wie wir
Nord einfuhren, wirkte dieser selbe Balsam noch in ihm nach, denn er trug einen unterdrückten Ich-bin-England-Blick im Gesicht, der Gail völlig neu an ihm war. Erst als sie im Hôtel des Quinze Anges ankamen – ein Quartier, wie nur Perry es auswählen konnte: schäbig, eng, fünf baufällige Stiegen hoch, winzige Zimmer, Einzelbetten so schmal wie ein Bügelbrett, und die rue du Bac nur einen Steinwurf entfernt –, begann ihnen die ganze Tragweite dessen aufzugehen, worauf sie sich hier eingelassen hatten. Es war, als hätte die Zeit in Bloomsbury, quasi mit Familienanschluss – ein gemütliches Stündchen mit ihrem Kumpel Ollie, noch eines mit ihrem Kumpel Luke, Yvonne sagt hallo, Hector wird kurz auf einen Schlummertrunk vorbeischauen –, ihnen ein Gefühl der Unverwundbarkeit verliehen, das nun, da sie allein waren, rapide verflog.
Sie konnten sich außerdem nicht mehr normal unterhalten, stellten sie fest. Sie redeten miteinander wie ein Musterpärchen aus der Werbung:
»Ich freue mich schon riesig auf morgen, du auch?«, sagt Doolittle zu Milton. »Ich habe Federer noch nie in natura gesehen. Ich bin total gespannt.«
»Ich hoffe ja nur, das Wetter spielt mit«, antwortet Milton Doolittle mit einem besorgten Blick aus dem Fenster.
»Ich auch«, pflichtet ihm Doolittle ernsthaft bei.
»Wie wär’s, wenn wir unseren Kram auspacken und einen Happen essen gehen?«, schlägt Milton vor.
»Gute Idee«, sagt Doolittle.
Aberin Wahrheit denken sie: Wenn das Match ins Wasser fällt, was um Himmels willen macht Dima dann?
Perrys Handy klingelt. Hector.
»Hallo, Tom«, sagt Perry wie ein Idiot.
»Gut angekommen, Milton?«
»Alles bestens. Reibungslose Fahrt. Hat alles wie am Schnürchen geklappt«, sagt Perry mit genügend Begeisterung für sie beide.
»Und heute Abend sind Sie dann auf sich gestellt.«
»Wie besprochen.«
»Doolittle gesund und munter?«
»Wie ein Fisch im Wasser.«
»Rufen Sie an, wenn Sie irgendwas brauchen. Wir sind rund um die Uhr für Sie da.«
* * *
Auf ihrem Weg durch die winzig kleine Hotelhalle bespricht Perry seine wettertechnischen Befürchtungen in aller Ausführlichkeit mit einer furchteinflößenden Dame, die Madame Mère genannt wird, wie die Mutter Napoleons. Er kennt sie seit seinen Studententagen, und Madame Mère, wenn man ihr denn glauben darf, liebt Perry wie einen Sohn. Sie misst knappe eins fünfzig in ihren Pantoffeln, und niemand, so Perry, hat sie je ohne das Tuch um ihre Lockenwickler zu Gesicht bekommen. Gail hört es gern, wenn Perry drauflosparliert, aber dass er gar so fließend spricht, verstimmt sie immer ein bisschen, vielleicht auch, weil er sich so bedeckt darüber hält, von wem er sein Französisch gelernt hat.
In einem tabac in der rue de l’Université essen Milton und Doolittle ein fades Steak-frites mit suppigem Salat dazu und sind sich einig, dass es das beste der Welt ist. Ihren Liter roten Hauswein schaffen sie nicht ganz und nehmen den Rest mit ins Hotel.
»MachenSie alles so, wie Sie es sonst auch täten«, hat Hector sie sorglos angewiesen. »Wenn Sie Pariser Freunde haben und sich mit ihnen einen netten Abend machen wollen, warum nicht?«
Weil wir nicht das tun würden, was wir sonst auch täten, ganz einfach. Weil wir keine Lust hätten, mit unseren Pariser Freunden in einem Café in St. Germain zu sitzen, wenn uns ein Elefant namens Dima durch den Kopf trampelt. Und weil wir niemandem Lügenmärchen darüber erzählen wollen, wo wir unsere Karten für das Finale morgen herhaben.
* * *
Wieder im Zimmer, trinken sie ihren restlichen Rotwein aus Zahnputzbechern und lieben sich dann andächtig und wortlos, die beste Art. Am nächsten Morgen verschläft Gail vor lauter Nervosität, und als sie aufwacht, starrt Perry auf die Regentropfen, die das verdreckte Fenster sprenkeln, und quält sich neuerlich mit der Frage, was Dima wohl macht, wenn das Spiel abgesagt wird. Und falls es auf Montag verschoben wird – Gails Überlegung –, muss sie dann in der Kanzlei anrufen und eine Sommergrippe vorschützen, was ohnehin als Menstruationsbeschwerden verstanden wird?
Sie lassen es langsam angehen. Nach Kaffee und Croissants, die ihnen Madame Mère ans Bett bringt (wobei sie Gail beifällig »Quel titan alors« zuraunt), und einem überflüssigen Anruf von Luke, der nur fragen will, ob sie gut geschlafen haben und sich fit fürs Tennis fühlen, liegen sie im Bett und besprechen, was sie mit ihrem Tag anfangen sollen, bis um drei Uhr das
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