Verruchte Lady
kennenzulernen, war inzwischen ebenso mächtig geworden wie jedes körperliche Verlangen. Es war beständig stärker geworden, seit er ihren ersten Brief geöffnet hatte.
Ein Blick auf die elegante Handschrift hatte genügt, um zu wissen, daß er es mit einer Frau zu tun hatte. Und zwar mit einer äußerst leichtsinnigen, impulsiven. Aus diesem Grund hatte er den rechten Augenblick abgewartet und sie immer den ersten Schritt machen lassen.
Gabriel war stolz auf die eiserne Kontrolle, die er in den vergangenen acht Jahren über seine eigenen Leidenschaften gewonnen hatte. Er war durch eine harte Schule gegangen, aber er hatte seine Sache gut gelernt. Er war nicht mehr der naive, idealistische Mann, der er in seiner Jugend gewesen war.
Dennoch hatte er in den vergangenen beiden Monaten all seine Selbstbeherrschung aufbieten müssen, um sich derart zurückzuhalten. Er hatte das Gefühl, als versuche die verschleierte Lady bewußt, ihn wahnsinnig zu machen. Und beinahe wäre es ihr auch gelungen. Er war inzwischen besessen von dem Wunsch, ihre Identität zu erfahren.
Er hatte die Handvoll aufreizender Briefe, die er von ihr bekommen hatte, ebenso aufmerksam studiert wie jedes seiner wertvollen mittelalterlichen Manuskripte. Das einzige, was er mit Sicherheit wußte, war, daß die verschleierte Lady sich ebenso gut mit Rittersagen auskannte wie er selbst.
Die Unfehlbarkeit, mit der sie seinen Buchgeschmack traf, hatte Gabriel auf den Gedanken gebracht, daß er ihr irgendwann in der Vergangenheit schon einmal begegnet sein mußte.
Aber als er sie jetzt ansah, wurde ihm klar, daß sie eine Fremde war. Sie war eine geheimnisvolle Frau, genauso bezaubernd wie die seltenen, exotischen dunklen Perlen, die man in den versteckten Lagunen der Südsee fand.
In dem silbernen Mondlicht hatte ihre Haut die Farbe cremiger Sahne. Als sie zu ihm aufblickte, stand ihr weicher, voller Mund vor Verblüffung auf. Gabriel sah eine stolze, aristokratische, kleine Nase, fein geschwungene Wangenknochen und riesige, überraschte Augen. Er wünschte sich nur, er könnte die Farbe dieser Augen erkennen.
Sie war nicht einfach hübsch, sondern eindrucksvoll. Die Stärke ihrer Nase und ihres Kinns bewahrte sie vor der schwa-chen, passiven Schönheit, die Gabriel mit schwachen, passiven Frauen verband. Außerdem fühlte sie sich gut an. Sie war klein und schlank und bebte vor weiblicher Energie.
In Nashs Cottage hatte er ihr glänzendes, dunkles Haar gesehen, das sie in einem strengen Knoten unter ihrem Hut zusammengefaßt hatte. Es schien von so dunklem Braun zu sein, daß es beinahe schwarz wirkte. Der Schein der Kerze war zudem auf zahlreiche leuchtende, dunkelrote Strähnchen gefallen. Gabriel hatte das beinahe überwältigende Bedürfnis verspürt, zu sehen, wie es wäre, wenn ihr Haar lose über ihre Schultern fiele.
Er konnte es kaum glauben, daß er seine verschleierte Lady jetzt tatsächlich in den Händen hatte. Während er auf sie hinabsah, verwandelten sich all die heftigen Gefühle, die sie in ihm geweckt hatte, in heißglühendes Verlangen. Er wollte sie.
Als der Schock und die Überraschung in ihrem Gesicht blanker Verärgerung wichen, neigte Gabriel seinen Kopf und küßte sie auf den Mund.
Anfangs erwartete er keinerlei Erwiderung. Der Kuß war hart und befehlend. Er war die Rache für all den Ärger, den sie ihm gemacht hatte. Ihre Lippen zitterten, und er spürte, wie ein Angstschauer ihren Körper durchlief.
Gabriel zögerte einen Augenblick. Ihre panische Reaktion auf seinen Kuß verwirrte ihn. Schließlich war sie kein Kind mehr. Sie war mindestens zwanzig Jahre alt, und sie hatte ihn bewußt herausgefordert. Außerdem war sie offensichtlich eine von Neil Baxters zahlreichen Geliebten gewesen. Baxter war ein Meister der Verführung gewesen. Selbst Honora Ralston, Gabriels Verlobte in der Südsee, war Baxters Verlockungen und Lügen erlegen.
Aber was auch immer sie sonst war, die geheimnisvolle verschleierte Lady war auf keinen Fall die erfahrene Liebhaberin, für die er sie anfangs gehalten hatte. Sie hatte ihn dazu angestachelt, sie zu küssen, aber sie selbst schien dadurch vollkommen aus der Fassung zu geraten.
Gabriels Neugierde, die er bisher noch mit Mühe hatte unterdrücken können, siegte vollends über den letzten Rest an Selbstbeherrschung, den er noch hatte. Plötzlich mußte er unbedingt wissen, ob er sie zu einer Erwiderung seines Kusses bewegen konnte.
Seine Berührung wurde sanfter. Er strich mit
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