Verruchte Lady
Überrascht sprang Phoebe auf. »Zeig
her.«
Sie nahm den Zettel und las mit gerunzelter Stirn:
Madam: Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist A. Rilkins. Ich bin Buchhändler und habe einen kleinen Laden in der Willard Lane. Kürzlich bin ich in den Besitz einer hervorragenden Ausgabe eines sehr seltenen mittelalterlichen Manuskripts gelangt. Die Illustrationen sind besonders fein, und die Geschichte handelt von einem Ritter der Tafelrunde. Mir wurde berichtet, daß Sie Interesse an derartigen Büchern haben. Ich werde diesen Band bis vier Uhr heute nachmittag für Sie zurücklegen. Danach werde ich andere Interessenten benachrichtigen.
Ihr ergebenster A. Rilkins
»Gütiger Himmel«, hauchte Phoebe. »Es ist noch eine Geschichte von der Tafelrunde aufgetaucht. Wie aufregend.« Sie sah das Mädchen an. »Bitte schick einen der Pagen mit einer Nachricht von mir los.«
»Ja, Ma’am.«
Phoebe ging hinüber zu ihrem Schreibtisch, nahm eine Feder und schrieb eine kurze Nachricht an Gabriel. Er hätte sicher ebenso großes Interesse an Mr. Rilkins’ Fund wie sie, und zweifellos würde er sie in dem Buchladen treffen wollen. Dann könnten sie gemeinsam feststellen, wie wertvoll das Buch war.
Phoebe faltete den Zettel und gab ihn dem Mädchen. »Hier. Sorg dafür, daß der Brief umgehend abgegeben wird. Und dann schick mir Betsy und sag einem der Pagen, daß er Morris ausrichten soll, daß ich die Kutsche brauche. Ich gehe heute nachmittag aus.«
»Ja, Ma’am.« Das Mädchen machte wieder einen Knicks und eilte den Flur hinab.
Phoebe sprang auf und öffnete die Tür ihres Kleiderschranks. Sie würde Gabriel treffen, also wollte sie so hübsch wie möglich sein. Sie fragte sich, ob sie das gelbgoldene Musselinkleid oder das neue pfauenblaue Spazierkleid tragen sollte.
Sie entschied sich für den Musseline.
* * *
Phoebe und ihre Zofe brachen innerhalb kürzester Zeit auf. Sie waren beide etwas überrascht, als ihnen klar wurde, daß es in Richtung des Flusses ging.
Betsy sah aus dem Fenster und runzelte besorgt die Stirn. »Das is’ nich’ gerade die beste Gegend hier, Ma’am.«
»Nein, nicht wahr?« Phoebe öffnete ihre Handtasche und zog Rilkins’ Nachricht heraus. »Willard Lane. Davon habe ich noch nie etwas gehört. Du?«
»Nein, aber der Kutscher scheint zu wissen, wo es ist.« »Frag ihn lieber noch einmal.«
Gehorsam öffnete Betsy die Luke im Dach der Kutsche und rief zum Kutscher hinauf. »Sin’ Sie sicher, daß es hier zur Willard Lane geht?«
»Ja. Willard Lane is’ unten bei den Docks. Warum? Hat die gnädige Frau ihre Meinung geändert? Ich kann auch wieder umdreh’n.«
Betsy blickte Phoebe an. »Nun, Ma’am? Wollen Sie umkehren?«
»Natürlich nicht«, sagte Phoebe. Ihre Suche nach alten Manuskripten hatte sie schon an schlimmere Orte geführt. Zum Beispiel auf eine einsame Landstraße in Sussex. »Ich kann mir eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen, nur weil Mr. Rilkins sich keinen Laden in einem besseren Stadtteil leisten kann. Fahren wir weiter.«
Die Willard Lane erwies sich als eine sehr enge Gasse, kaum mehr als ein Durchgang. Die prächtige Claringtonsche Kutsche würde dort nicht hineinpassen. Der Kutscher brachte die Pferde in einiger Entfernung zum Stehen, und der Page sprang ab, um Phoebe und ihre Zofe in A. Rilkins’ Buchladen zu begleiten.
Phoebe sah hinauf zu dem kaum leserlichen Schild über dem Eingang des Geschäfts. Offensichtlich war Mr. Rilkins kein allzu erfolgreicher Buchhändler. Sein Laden war wirklich schäbig. Die Schaufenster waren so staubig, daß man in dem dunklen Gang nichts sah.
Als Phoebe eintrat, schlug ihr dumpfer Modergeruch entgegen. Im ersten Augenblick konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Dann jedoch bemerkte sie, daß sich hinter dem Tresen jemand bewegte.
Ein kleines, verhutzeltes Männchen mit dem Gesicht einer Ratte kam um die Ecke. Er blinzelte sie durch eine dicke Brille an und legte den Kopf schief.
»Willkommen in meinem bescheidenen Laden, Mylady. Ich nehme an, Sie sind die Dame, die das alte Manuskript sehen möchte, oder?«
Phoebe lächelte. »Ja, das stimmt.« Sie sah sich eilig in dem winzigen Laden um. Es waren keine anderen Kunden da, und in den Regalen stand nur eine Handvoll verstaubter Bücher. Von Gabriel keine Spur. »Sonst ist niemand gekommen, um sich das Manuskript anzusehen?«
»Nein«, krächzte Rilkins. »Sie genießen das Privileg, sich das Buch ansehen zu dürfen, ehe ich
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