Verruchte Lady
trennte Phoebe vom Tageslicht.
Die Kerze flackerte, und Phoebe sah, daß sie nur noch ein paar Minuten Licht haben würde. Bald wäre sie in einem finsteren Grab gefangen.
Sie blickte über ihre Schulter. Hinter ihr war nichts zu sehen und nichts zu hören. Ihre Retter waren offenbar nicht in der Lage, das schwere Eisentor zu öffnen. Vielleicht war es ja sogar extra konstruiert, um den Geheimgang dauerhaft zu verschließen. Wenn der Burgherr und seine Familie vorgehabt hatten, auf diesem Weg zu fliehen, dann hatten sie bestimmt sichergehen wollen, daß ihnen niemand folgte.
Die Kerze zischte und flackerte. Phoebe mußte sich entscheiden. Sie würde es nicht ertragen, hier in der Finsternis zu hocken und darauf zu hoffen, daß jemand sie rettete.
Also mußte sie schwimmen.
Phoebe stellte die Kerze vorsichtig auf den Boden. Dann löste sie die Bänder ihres Kleides und zog den Rüscheneinsatz heraus.
Sie trug nur noch ihr Hemd, als sie sich an den Rand des Sees setzte und vorsichtig ihre Beine in das dunkle, kalte Wasser tauchte. Einen Moment lang wurde sie von blankem Entsetzen erfaßt, als ihre Füße in dem schwarzen Naß verschwanden. Schließlich wußte sie nicht, was für Kreaturen in der Tiefe lebten.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und ließ sich ins Wasser gleiten. Das letzte Aufflackern der Kerze war der Ansporn, der
ihr noch gefehlt hatte. Als das schwache Licht verlosch, war Phoebes einziger Gedanke, das Tageslicht zu erreichen, das auf der anderen Seite lockte.
Sie stieß sich ab und schwamm zügig in Richtung des Lichtstrahls.
Entsetzt stellte sie fest, wie schnell ihre Energien in dem kalten Wasser schwanden. Als sie ihr Ziel halb erreicht hatte, rang sie nach Luft und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Ihr schwaches linkes Bein ermüdete einfach zu schnell.
Sie schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis sie den Eingang der Höhle erreichte. Es war, als versuche das Wasser, sie unter die Oberfläche zu ziehen. Phoebe begann, mechanisch zu schwimmen wie ein mit einem Uhrwerk betriebenes Spielzeug. Mit jedem Stoß sog sie Luft in ihre Lungen und benutzte ihre Furcht vor der unsichtbaren Tiefe, um ihre Beine anzutreiben.
Als ihre Finger sich endlich schmerzhaft an den muschelverkrusteten Stein krallten, brach sie vor Erleichterung beinahe zusammen. Sie rang nach Luft, klammerte sich an den Felsen und starrte hinaus ins Sonnenlicht in der Hoffnung, den nahen Strand zu entdecken.
Erst da stellte sie fest, daß sie bisher nur einen Teil der Strecke hinter sich gebracht hatte. Der versteckte Höhleneingang war ziemlich weit vom Ufer entfernt. Niemand würde sie von den Klippen aus sehen, wenn sie hierbliebe. Ihre Hilferufe würden im Rauschen der Wellen untergehen.
Sie mußte an den Strand schwimmen.
Phoebe klammerte sich noch einen Augenblick an den Steinen fest und versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß sie jetzt wenigstens in der Sonne war. Es war nicht mehr ganz so kalt. Und es war nicht mehr weit.
Wenn sie nur nicht so erschöpft wäre. Wenn sie sich nur noch etwas ausruhen könnte.
Aber das war ein zu großes Risiko. Das Wasser schien trotz des Sonnenlichts immer kälter zu werden. Sie konnte nur beten, daß sie noch genügend Kraft besaß, um den Rest des Weges zu schwimmen.
»Gabriel«, flüsterte sie, als sie sich erneut ins Wasser stürzte. »Wo, zum Teufel, bist du nur, wenn ich dich brauche?«
Kapitel 14
»Wo, zum Teufel, ist sie?« brüllte Gabriel.
Rollins, der Butler, schwankte leicht, aber er hielt tapfer die Stellung. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, Sir, daß ich keine Ahnung habe, wo Lady Wylde sich im Augenblick befindet. Zuletzt war sie in der Bibliothek, wie immer um diese Zeit.«
»Und zu jeder anderen Zeit«, murmelte Gabriel. In den letzten Tagen schien Phoebe jede freie Minute damit zu verbringen, sich vor ihm in der verdammten Bibliothek zu verstecken. »Versammeln Sie umgehend die gesamte Dienerschaft.«
»Ja, Mylord.«
Innerhalb weniger Minuten drängten sich alle Bediensteten in der Eingangshalle. Niemand wußte, wo Phoebe war. Alle stimmten darin überein, daß sie zuletzt gemütlich in der Bibliothek gesessen hatte. Das letzte Mal, daß einer der Angestellten sie tatsächlich gesehen hatte, war vor zwei Stunden gewesen.
Gabriel kämpfte gegen seine wachsende Unruhe und die Besorgnis, die sich darunter verbarg. Man erreichte nie etwas, indem man sich von seinen Gefühlen leiten ließ. »Ich will, da jeder Zentimeter der Burg und des
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