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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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kommt, ich schreibe auf Papier (liniert), A5-Format. A6 hat sich als zu klein erwiesen, A4 als zu groß.
    Ich schreibe jeden Abend, bevor ich einschlafe, und wenn ich keine Lust habe, dann schreibe ich »keine Lust«. Ich benutze das Papier nur einseitig. Kommt mir beim Schreiben eine Idee für eine Geschichte, dann kann ich sie links notieren. Es gibt keine Vorgaben für einen Tagebucheintrag. Datum hilft, muss aber nicht sein. Nichts muss. Es kann Tagesbanalität sein, Unbehagen über Fehler oder ausbleibende Reaktionen, der Nachklang von Träumen, ein Hochgefühl, ein frischer Eindruck, den ein Film, ein Buch hinterließ. Ich versuche, zu ergründen, was mir heute im Magen liegt. Ich halte Zufriedenheiten fest – meist neigt man dazu, im Tagebuch zu klagen,denn die guten Zeiten lassen sich schwer protokollieren. Wichtig ist, dass der innere Zensor ausgeschaltet wird.
    Es geht nicht darum, einem Leser das Bild der eigenen Persönlichkeit zu vermitteln. Es gibt keinen Leser, Sie sind Ihr einziger Leser. Nicht an die Nachwelt denken! Keinen Wert auf Vollständigkeit legen, den Wortmüll nicht trennen, sondern auskippen. Krisen werden nicht verarbeitet, nur protokolliert. Weltgeschichtliche Zusammenhänge werden beiläufig erwähnt. »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – nachmittag Schwimmschule«, notiert Franz Kafka am 2. August 1914. Was für ein Satz. Da atmet Weltgeschichte. Und zwar ein und aus.
    »Als sich die Umrisse New Yorks hinterm Wasser aus dem Nebel schälten, überfiel mich eine große Liebe für die Stadt wie ein Hunger. Ich sah nach oben und war unendlich erleichtert. Der Himmel, der mich draußen zu erdrücken drohte, würde mir hier nicht auf den Kopf fallen können. Bei so hohen Häusern. Die halten doch alles ab, dachte ich und war beruhigt und war zu Hause«, notierte ich am 5.   9.   2001 in New York.
    Eine Woche später geschah in meiner unmittelbaren Nachbarschaft das, was wir heute Nine-Eleven nennen. Der Himmel fiel mir auf den Kopf. »Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen«, schreibt Rilke, zwar nicht in einem Tagebuch, aber es zielt genau auf das, was ich fühlte.
    Manches liegt erst Jahre oder Jahrzehnte später, beim Wiederlesen, in der größeren Einordnung, klar auf der Hand. Dass der Anschlag aufs World Trade Center einen Knick in meine Biographie machen würde, weil ich ihn zum Anlass für eine Bestandsaufnahme gemacht habe, lässt sich im Nachhinein aus meinen privaten und öffentlichen Notizen lesen. Andere Begleitumstände erschließen sich später überhaupt nicht mehr. Tagebuchschreiben ist ein Monolog, kein Dialog. »Journal intime« ist der französische Begriff für Tagebuch. Journal intime – die Auseinandersetzung mit sich selbst erfolgt im engsten Rahmen: allein.
    Meine Mutter las mein Tagebuch, als ich zwölf war. Der Vorfall steht bis heute zwischen uns, auch wenn wir nicht darüber reden. Ich trage ihr den Vertrauensbruch nach, sie verübelt mir, was sie dort las (eine pubertierende Elternbeschimpfung). Die Mutter und die Meise, einen Konflikt erkennen und formulieren – da muss man ja zum Schriftsteller werden.
    Jetzt sind wir erwachsen. Die Mütter haben keinen Zugang mehr zu unseren Tagebüchern. Wir haben gelernt, unsere Geheimnisse zu hüten. Uns selber können wir von Herzen vertrauen. Uns selber müssen wir nichts vormachen. Vor uns selber können wir nackt dastehen. Hose runter! Schonungslose Offenheit bis in den Schmerz hinein! Wer sich selbst seine Beweggründe, seine Abgründe, seine sonstigen Gründe verrät, der muss vor Anderen nicht wie eine offene Wunde herumlaufen.
    »Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben«, schrieb die Expressionistin Paula Modersohn-Becker 1900 in ihr Tagebuch, »aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest.« Sie starb sieben Jahre später, 31-jährig, mit den Worten »Wie schade!«. Als Werner Herzog 1974 hörte, dass die Filmkritikerin Lotte Eisner im Sterben läge, beschloss er, zu Fuß von München nach Paris zu gehen, damit sie am Leben bliebe. Über seine Reise führte er ein Tagebuch, das er vier Jahre später veröffentlichen ließ.
    Ich lese gern die Tagebücher anderer Menschen – nach Veröffentlichung. Dann sind sie zwar oft lektoriert, ein bestimmter Eindruck wird durch die gezielte Auswahl begünstigt, aber es bleiben noch Hinweise

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