Verrückt bleiben
auf die private Ungeschütztheit. Mit all ihren kleinen und großen Nöten stehen die Tagebuchschreiber vor uns. Die Tagebücher von Brigitte Reimann, Thomas Mann, Julien Green waren maßgeblich für mich. Thomas Mann steigt von seinem Sockel, wenn er Sachen notiert wie: »mit Öl abgeführt. nicht wohl.«, oder: »nach dem Kaffee gebadet undrasiert.«. Brigitte Reimann verliebt sich jeden Tag in jemand anders, der schwule Katholik Julien Green kämpft um sein Seelenheil.
Der Mensch kommt als Ausbund an Vertrauen auf die Welt, aber dann beginnt diese Welt, Mauern aus Tabus um ihn aufzurichten. Und wie reagiert er darauf? Er errichtet ebenfalls Mauern, um diesen Mauern zu begegnen. Dazwischen ist Niemandsland, der Todesstreifen, ein Vakuum, das uns am Leben hindert. Ein Tagebuch schlägt ein Loch in diese Mauern. Dort können wir uns selber wichtig nehmen, unserem Leben eine Bedeutung geben. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein riesengroßer für uns selbst. Wir können uns loben, wir können aber auch vernichtend hart mit uns selbst ins Gericht gehen. Wir können unser bester Freund sein und unser schlimmster Feind, Ermutiger und Kritiker, Befeuerer und Bremser. Alles zu seiner Zeit. Alles im kleinsten Kreise. Schreiben Sie Tagebuch – aber verstecken Sie es gut!
9. Fressen
»Man sieht euch immer nur fressen und saufen. Warum fastet ihr nicht, ihr alten Säue?«
Klaus Kinski
Es gibt drei morbide Klassiker über das Fressen: »Ich fraß die weiße Chinesin«, ein vergriffener Roman von Duca di Centigloria, »Die 120 Tage von Sodom«, eine fast nur in S/M-Videotheken erhältliche De-Sade-Verfilmung von Pier Paolo Pasolini, und »Das große Fressen« von Marco Ferreri. Während uns Duca di Centigloria mit geradezu gourmethafter Verzückung den Kannibalismus erklärt, spart Pasolini nicht an allergröbsten Geschmacksverletzungen wie z. B. dem Darreichen von menschlichem Kot zum Dinner. In »Das große Fressen« treffen sich vom Leben gelangweilte Freunde, um sich zu Tode zu fressen: Michel Piccoli, Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi und Philippe Noiret. Ferreris Film ist wuchtig, vulgär und – vollkommen amoralisch. Heute wäre diese Tonart so nicht mehr möglich. Heute würde überhaupt niemand mehr auf die Idee kommen. Völlerei gilt als Unterschichtenproblem. Komasaufen hat sich als effizienter erwiesen. Wenn man zum Beispiel seine besten Freunde treffen wollte für eine lange, fettige finale Fressorgie – wen würde ich da einladen? Wen würden Sie einladen? Was würde passieren? Wie würde es enden?
Im Film werden mit dem Kühllaster tonnenweise tote Tiere aufgefahren, die es zu verspeisen gilt: ein Wildschwein, in freier Natur geschossen, zwei sanftäugige Rehe, besonders superb, zehn Dutzend halbwilde Perlhühner, gefüttert mit dem besten Wacholder der Bretagne, etc. pp.
Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches ist diesen Helden fremd. Marcello reibt selbstvergessen den steinernen Arsch einer Statue, Michel, im hautengen rosa Rollkragenpullover,hält sich einen Kuhkopf vors Gesicht und deklamiert »Sein oder Nichtsein«. Ugo Tognazzi macht Furzgeräusche. Dann beginnt das Austern-Wettschlürfen, und die dicke Andrea stößt hinzu.
Erst isst sie Nierchen süßsauer mit Schokolade und Schlagsahne, dann näht sie Philippe zwei Knöpfe an den Hosenstall, während er die Hose noch trägt. Schließlich betreut sie alle vier Gourmets sexuell. Philippe verlobt sich mit Andrea und macht ihr eine mehrstöckige Torte. Dann platzt die Sanitäranlage, Fäkalien spritzen aus dem Klo und überschwemmen das hochherrschaftliche Haus. Egal. Stoisch wird weitergefressen bis zum bitteren Ende.
Damals war Mastroianni noch mit Catherine Deneuve zusammen. Er soll zu ihr gesagt haben: »Schatz, morgen hat mein neuer Film Premiere. Gehen wir hin?« Deneuve hat nach der Premiere eine Woche nicht mit ihm gesprochen. Manche behaupten, sie hätte sich deswegen von ihm getrennt.
Der Film empörte das Publikum, widerte es an. In einigen Kinos sind damals Zuschauer in Ohnmacht gefallen, haben gekotzt. Ein Indiz dafür, dass Kunst keinen Menschen kalt lassen sollte? Ein Lehrstück darüber, dass zu viel Fressen nicht gesund ist?
Bei Licht besehen, haben wir Menschen das Fressen verlernt. Wir reißen nicht mehr mit den Zähnen das Herz aus selbsterlegten Tieren. Wir saufen nicht mehr Wasser direkt aus dem sprudelnden Bergbach. Wir beißen nicht mehr kraftvoll zu, nein, wir vierteln den Apfel. Wir trauen uns nicht mal mehr
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