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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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war neu. Aber dann: Als Johnny Guitar (Sterling Hayden), ihre große Liebe, ein klobiger Revolverheld, der die Knarre gegen eine Gitarre getauscht hat, wieder in Viennas Leben tritt, wird sie weich. Das Eis der Intelligenz schmilzt, das Weibchen tritt hervor. Sie tauscht die Männerklamotten gegen ein weißes Kleid, sie tauscht Küsse und Liebesgeständnisse mit Johnny – und er tauscht die Gitarre wieder gegen die Knarre. Die Rollenbilder sind wiederhergestellt und mit den Rollenbildern die Ordnung. Die Amazone war nur aus enttäuschter Liebe eine Amazone, der Cowboy war nur aus enttäuschter Liebe ein Gitarrist – sie unterwirft sich dem Bild, das sich die 1950er Jahre von ihr machen, jetzt ist alles wieder im Lot.
    Fünfzig Jahre später erfindet der schwedische Schriftsteller Stieg Larsson für seine Millennium-Trilogie die Figur Lisbeth Salander. Sie ist eine der interessanten Frauenfiguren der Gegenwartsliteratur – geschrieben von einem Mann, verfilmt von einem Mann. Stachelhalsband, Blech im Gesicht, Lulatsch-Gang. Sie ist das Gegenteil optischer und charakterlicher Anpassung. Andere 24-Jährige schnallen die Möpse hoch, Salander brüllt: »Fuck off, Wichser!«
    Natürlich hat sie eine schwere Kindheit gehabt, das muss schon erklärt werden. Einfach so böse sein, als weibliche Identifikationsfigur, das geht noch nicht im Film, da müssen wir noch hundert Jahre warten. Lisbeth begreift die Außenwelt als Feind, Schminke, Piercings, Tattoos sind ihr Panzer. Halb geschoren, spinnenbeinig, auf klobigen Plateauschuhen, imOhr mehr Löcher als ein Schweizer Käse, kreiert sie einen Anti-Style. Sie ist die Marilyn Manson unter den fiktiven Frauen.
    »Urteilen Sie bitte nicht vorschnell! Lisbeth ist ein spezielles Mädchen«, sagt ihr Kollege, wenn Kunden kommen. ›Spezielles Mädchen‹ ist ein hilfloser Euphemismus für das, was Salander ist. Sie ist eine Kriegerin, eine Ninja-Kämpferin, ein veritabler Robin Hood. Sie ist all das, was wir uns nicht trauen zu sein: Unter ihrem brettharten Irokesenschnitt arbeitet ein waches Hirn, unter ihrer Bikerjacke schlägt ein großes Herz. Ihr Nasenring ist nicht etwa eine Demutsgeste, sie lässt sich nicht an der Nase herumführen, sie trägt sie nach oben. Man möchte ihr lieber nicht im Dunklen begegnen. Sie grüßt nicht, sie lächelt nicht, ihre schwarz geschminkten Lippen sind fest geschlossen. Vielleicht hat sie gerade einem Bösewicht den Schwanz abgebissen und kann deshalb nicht »Guten Tag« sagen?
    Als Lisbeth Salander vergewaltigt wird, humpelt sie nach Hause, setzt sich auf ihren geschundenen Hintern, zündet mit zitternder Hand eine Zigarette an und macht einen Plan. In ihrer Rache ist sie konsequent: ohne Gnade, ohne Genuss. Sie tut, was zu tun ist. »Ich hab das noch nie gemacht, also halt still, sonst wird das ’ne Mordsschweinerei«, sagt sie zu ihrem wimmernden Vergewaltiger, als sie ihn überlistet und gefesselt hat. Dann tätowiert sie auf seinen Bauch: »Ich bin ein widerliches Sadistenschwein und ein Vergewaltiger.« Der Bauch ist groß genug für die ganze Wahrheit. Lisbeth Salander ist ein Angriff auf unser bürgerliches Wohlbefinden. Sie ist ein intellektueller Kettenhund, ein Teufel im Kopf, eine Topfbürste, die an unserem Gewissen scheuert. Dennoch gibt es, als sie an ihrem Aggressor Rache nimmt, sicher auch in der bravsten Zuschauerin ein leises Frohlocken.
    Oder nehmen wir die 45-jährige Mariam aus Berlin, die vor fünf Jahren aufhörte, die Haare, die ihr seit der Pubertät um den Mund herum wuchsen, mit der Pinzette herauszuzupfen. Haare in einem Frauengesicht werden in der amerikanischenFernsehwerbung nicht nur »facial hair« genannt, sondern »embarrassing facial hair« – peinliche Gesichtsbehaarung. So lernt jedes Kind aus der Werbung, dass Haare im Gesicht einer Frau peinlich sind.
    In einer Mischung aus Neugier und Mut hat sich Mariam einen Vollbart stehen lassen. In Tod Brownings Film »Freaks« von 1932, der in einem Wanderzirkus spielt, gibt es außer einem »menschlichen Torso«, diversen Kleinwüchsigen, einem siamesischen Zwillingspaar, einem Stotterer und zwei Armlosen auch eine vollbärtige Frau, die nur unter »Freaks«, also ihresgleichen, akzeptiert ist. Als sie ein Baby zur Welt bringt, versammeln sich alle um ihr Bett und witzeln gutartig darüber, ob das Kind, eine Tochter, wohl auch einen Bart bekäme. In diesem Moment funktioniert der Mikrokosmos perfekt – aber draußen lauert die brutale Welt. Browning wollte

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