Verrückt bleiben
dass ich mit Madonna abgestürzt sei, dass ich mit Clinton shoppen war, dass Bürgermeister Giuliani mein Haussklave sei. Ich hatte zwei Romane geschrieben und einen Vertrag für den dritten in der Tasche, ich moderierte eine Kultursendung im Ersten Deutschen Fernsehen (übrigens nur einmal). Ich war noch ganz kregel für meine 35 Jahre, neugierig, risikofreudig. Nichts war mir heilig. Alles war gut.
Aber dann kam der Tag, an dem das World Trade Center praktisch vor meiner Haustür zusammenbrach. Mein lustiger New York-Ausflug endete im Weltkrisengebiet. Ich hatte Angst. Das war ein Gefühl, das ich noch nicht kannte: Todesangst. Ich robbte kotzend, auf allen vieren, übers Parkett meines Apartments, als der erste Turm einstürzte. Ich fing an zu heulen, als der zweite einstürzte. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, Panikattacken, Alpträume. Reisen kann lebensverändernd sein: Lektionen in Demut. Begegnung mit der Endlichkeit des Lebens. Neuanfang.
Im Nachhinein haben die Reisen meines Lebens den Anflug hektischer Betriebsamkeit. Ich reiste mich schier um den Verstand. Und je mehr ich unterwegs war, desto gleicher kamen mir die Menschen überall vor. Sie hatten andere Religionen, andere Hautfarben, aber sie waren genauso glücklich oder traurig wie wir, sie hatten Träume und Ansichten wie wir. »Ich umarme einen Polen genauso herzlich wie einen Franzosen, denn gegenüber den nationalen Banden haben die uns alle verbindenden für mich Vorrang«, schreibt Montaigne in seinen Essais. »Völlig neue, völlig auf eigenem Entschluss gründende Bekanntschaften scheinen mir ebenso viel wert wie die alltäglichen, die sich aus zufälliger Nachbarschaft ergeben.«
Auf meiner Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn sind wir in Ulan Bator ausgestiegen. Eine Tagestour in die Mongolische Schweiz stand auf dem Programm, mit Stopp in einer Jurte, in der Nomaden lebten, die routiniert im Umgang mit Touristen waren. Aber dann riss der Keilriemen, und wirfanden uns in unberührter Landschaft, zwischen Hügeln und Tälern und Jurten, in denen Nomaden lebten, die nie im Leben Touristen gesehen hatten. Sie schauten uns an, als stünde E. T. vor ihnen. Wir hockten in der Jurte und ließen uns mit Trockenkäse und fermentierter, von Fliegen umkreister Stutenmilch bewirten. Unvergesslich.
In Kalkutta verbrachte ich einen Tag in einer Lepra-Kolonie. Eine Frau trat aus einer Hütte und reichte mir zwischen zwei schwarzen Handstümpfen eine Tasse mit Tee. Man kommt mit diesen lächerlich karitativen Absichten – und dann beschämen die, die nichts haben, den Reisenden mit Gastfreundschaft. Ich ekelte mich kurz, schluckte dann den Ekel runter, dankte ihr und trank den Tee. Unvergesslich.
Das schönste Hotel meines Lebens war keins mit fünf Sternen. Es war eine kleine Bude an den Ghats von Varanasi. Sie stand auf einem Hügel und gehörte zu einer Pension. Sie kostete einen Dollar pro Nacht. Morgens rüttelten Affen an den Fenstern, und nachts sah man die Verbrennungsfeuer, die Feste zu Ehren der Götter, die beleuchteten Boote auf dem Ganges.
Reisen ist das Sammeln von Bildern, die sich für immer einbrennen. Pauschalreisende mit festen Stationen werden solche Erfahrungen nicht machen. Sie reisen im Kokon, sprechen ihre Sprache, gehen ausgetretene Pfade, lassen den Reiseleiter seine Texte runterleiern, sie fotografieren Motive, die jeder fotografiert, zwischen sich und dem Anderen immer die Kamera.
Irgendwann im Leben eines Reisenden kommt dann der Punkt, an dem sich alles dreht. Wenn man ganz weit weg ist, kann aus dem Fernweh plötzlich Heimweh werden. Ich kam 2005 zurück nach Sachsen und lebe hier seit sieben Jahren, mit kleinen Kurzreisen, ohne größere Fernweh-Attacken. Was ist passiert? Kann ich die Intensität des Reisens nicht mehr ertragen? Suche ich Halt nach all dem Herumirren? Liegt mein Seelenheil in der Leipziger Tieflandsbucht?
Ob die Reiselust Ausdruck meiner Jugend war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie verging. Hat Fontane recht? »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben.« Hat Tagore recht? »Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt.« Ich glaube, dass das so ist. Ich glaube, dass sich Benn geirrt hat, das Fahren ist nicht vergeblich. Der Weg nach Hause führt manche einmal um die Welt.
Reisen Sie! Reisen Sie ungewöhnlich. Reisen Sie allein, das öffnet den Blick. Der Alleinreisende reist aufmerksamer. Er streckt seine Tentakel aus. Er ist der Held in seinem eigenen Roadmovie.
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