Verrückte Lust
fieberhaft nach einem Wort, das diesen Streit auflösen, nach einer Geste, die zwischen ihm und ihr wieder eine Nähe herstellen würde.
»Also?« In ihrer Stimme war wieder neue Arroganz. »Wohin gehen wir?«
Sie standen vor dem Abgang zum U-Bahnhof Sheridan
Square. Gegenüber war das Cafe, in dem sich die bizarreren Gestalten des Village trafen. Im großen Fenster saß manchmal Willie Hyslop und sah aus wie Johannes der Täufer.
»Du willst mich doch hoffentlich nicht da reinschleppen«, sagte sie, als sie seine Blickrichtung bemerkte.
Er packte sie grob am Arm und zerrte sie die Stufen hinunter.
Sie saßen in einem chinesischen Lokal, ein in rosiges Licht getauchtes Orchester spielte leise, Liebespaare drängten sich wollüstig in einem winzigen Rechteck, das mit schimmernden Messingpfosten und schweren Samtkordeln abgetrennt war.
Der Ausdruck auf Hildreds Gesicht, der ihn vor kurzem noch so wütend gemacht hatte, war völlig verschwunden. Was sie jetzt zeigte, war fast Dankbarkeit. Sie war sogleich auf die kleine Nische zugesteuert, die zum Broadway lag, wo das gewaltige Neonlicht leuchtete. Dort hatten sie sich
kennengelernt, in dieser Nische hatte sie begonnen, jene Fiktion über sich selbst aufzubauen, an die sie sich noch immer klammerte und die sie im Lauf der Zeit sogar noch kunstvoll ausgearbeitet hatte.
Sie erzitterten, als ihre Knie sich berührten. Als die Musik wieder einsetzte und sie die Melodie hörten, die einst wie flüssiges Feuer durch ihre Adern geflossen war, stiegen ihnen die Tränen in die Augen. Arm in Arm gingen sie zur
Tanzfläche, wo sich auf dem winzigen, rosig beleuchteten Rechteck die Verliebten und Bezauberten wollüstig aneinander drängten. In liebevoller Umarmung schwebten sie selig mit den anderen dahin – es war nun alles vergessen außer der Erinnerung an die Zeit, da sie sich getroffen und tagelang jede Minute miteinander verbracht hatten. Es war wie das Stück eines Traums, der, mit kaum wahrnehmbarer Anstrengung, im Bruchteil einer Sekunde immer wieder heraufbeschworen wird
– unverändert, lebendig, nackt, vollständig. Leise sang sie die Worte in sein Ohr; die Berührung ihrer Wange brannte wie Feuer, ihre Stimme war wie eine Droge, ihre weichen, vollen Brüste hoben und senkten sich im Takt der Musik. Es war ein Lied, das Vanya nie gehört hatte – dessen war er sich deutlich bewußt. Wenn dieser Tag jemals kam… Er riß sich zusammen.
Warum sollte er daran denken? Warum nicht diesen Becher des Glücks bis zur Neige leeren?
Sie setzten sich wieder an den Tisch und sahen sich
nachdenklich an. Dachte auch sie an all das, was zwischen sie getreten war? Dachte auch sie an das Glück, das, wie sie sich geschworen hatten, nie zerstört werden sollte? Oder kam dieser verträumte Ausdruck in ihren Augen von einer plötzlichen Erinnerung… an die letzten Worte, die sie mit Vanya
gewechselt hatte, an das geflüsterte Gespräch am Eingang des
»Caravan«? Sein Blick hing an ihren Lippen und verharrte ängstlich dort. Die kleinste Andeutung über Vanya, und das Glück des Augenblicks wäre zerstört…
Aber, nein, Gott sei Dank waren ihre ersten Worte nicht grausam. Es waren kleine Worte, belanglose Worte, aber voller Erinnerungen an die damalige Verzauberung. Er betrachtete ihre Lippen, ihren weichen, verheißungsvollen Mund, ihre Zunge, die jedes Wort zu liebkosen schien, als wäre es ein duftender, sehnsuchtsvoller Körper. Ihr Lächeln war wie die Sonne, die nach einem Regenschauer auf eine fremde, schöne Stadt scheint. Ein Bild von Paris schoß ihm durch den Kopf: die bunten Mauern, der Himmel, dessen Farbe sich von
Milchweiß zu Perlgrau veränderte, das feuchte Grün der Gärten, die Spiegelungen in der Seine… Er sah sie fest, aufmerksam an. Man konnte es kaum ein Lächeln nennen,
dieses eigenartige, übernatürliche Leuchten. Die Flamme brannte zu gleichmäßig, die Gesichtszüge blieben erleuchtet, wie eine Statue über einem Altar, die hervortritt, wenn Dunkelheit sich über die Kirche senkt.
Paris! Sein Kopf war voller Gedanken an Paris. Während der letzten Tage hatten sie immer nur gesungen: Paris, Paris, Paris… Was für Erinnerungen dieser Name weckte! Sonntage auf dem Montmartre, Picknicks im Bois de Boulogne, die Karussells in den Tuilerien, der Teich im Jardin du
Luxembourg, wo die Jungen ihre Boote fahren ließen. Er dachte an die Liebespaare, die sich in der Metro
aneinanderdrückten, an die Liebespaare, die sich in der
Weitere Kostenlose Bücher