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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Öffentlichkeit umarmten, in den Parks, auf den Straßen, überall. Herrgott, wie sie sich liebten in Paris! Und die Abenddämmerung – dieses unheimliche, metallische Glühen des Himmels, als wäre er ein Stück Metall, auf dem ein intensives Licht spielte und auf das eine riesige, unsichtbare Hand ein paar hastige Pinselstriche zeichnete. Ein ganz anderer Himmel, der Himmel über Paris. Ein nördlicher Himmel.
    Gefangen vom fanatischen Leuchten ihrer Augen, spürte er wieder einmal die sinnliche, greifbare Schönheit des weichen Schwarz der Dächer, die nach einem warmen Regen in der Sonne glänzten. Die herrlichsten Schwarztöne waren in diesen Dächern
    – sie waren wie jene warmen, völlig
    unbeschreiblichen Schattierungen von Holzkohle.
    Der Abend rückte vor, und es erschien ihm unmöglich, daß der Becher seines Glücks noch einen einzigen Tropfen würde aufnehmen können.
    Und dann geschah etwas Unglückseliges, sehr
    Unangenehmes. Als sie nach Kleingeld kramte, um es dem Ober als Trinkgeld zu geben, fiel ein Briefumschlag aus ihrer Handtasche. Sie sah ihn erschrocken an und wollte ihn schon aufheben, besann sich aber, als sie merkte, daß Tony Bring keine Anstalten machte, sich zu bücken, und ließ den
    Umschlag auf dem Boden liegen, wo ihn jeder sehen konnte.
    Tony Bring erkannte die kindliche Krakelschrift sofort. »Laß ihn mich lesen«, wollte er gerade sagen, doch Hildred hatte ihn bereits aufgehoben und schob ihn in ihre Handtasche. Die Angst und Panik, die in dieser Geste lagen, widerten ihn an.
    »Ich kann ihn dir nicht zeigen«, sagte Hildred, »glaub mir…
    Ich kann einfach nicht. Ich hab nicht das Recht dazu.«
    Sie hatte noch nie so ernst und aufrichtig geklungen.
    »Es hat überhaupt nichts mit uns zu tun«, sagte sie.
    »Überhaupt nichts!« Sie benutzte das Wort heilig. In dem Brief stand etwas, das Vanya heilig war und das sie niemandem, nicht einmal ihm, enthüllen durfte. In ihm gab es einen Widerstreit; mehr denn je wollte er an sie glauben. Er sagte sich, daß es unerläßlich sei, an sie zu glauben. Sie war eine Lügnerin, soviel wußte er, und das verzieh er ihr, doch hier ging es nicht um eine Lüge. Wieder einmal, wie damals, als er in dem möblierten Zimmer, das auf den Hafen ging, auf sie gewartet hatte, hatte er das Gefühl, daß ihn etwas Böses belauerte, eine wilde, unkontrollierbare Angst, daß ihm alles genommen werden würde. Dennoch ließ er den Augenblick
    vorübergehen und erwähnte den Brief mit keinem weiteren Wort.
    Auf dem Heimweg stand Hildreds Zunge nicht still. Sie
    schien sich nicht mehr zügeln zu können. Anscheinend war es ihr gleichgültig, was sie sagte; es war, als wollte sie den Zwischenfall in einem Schwall von Worten ertränken, doch je weiter sie die Schleusen öffnete, desto mehr Bedeutung bekam er; er trieb auf dem Ozean ihrer Worte wie ein unsinkbarer Korken.
    »Du sagst, du liebst uns beide?« fiel er ihr ins Wort und durchbrach sein langes Schweigen.
    »Ja«, sagte Hildred. »Ich liebe euch beide, wenn auch meine Liebe zu dir ganz anders ist als meine Liebe zu Vanya.«
    »Überleg dir, was du da sagst, Hildred!« rief er. In seiner Stimme lagen weder Feindseligkeit noch Wut; er hatte
    vielmehr das Gefühl einer mit tiefer Neugier vermischten Ruhe, wie sie uns in Augenblicken großer Gefahr überkommt.
    »Denk nach, Hildred. Ist es Liebe, was du für sie empfindest?
    Man gebraucht das Wort Liebe doch nicht so wahllos…«
    Aber Hildred ließ sich nicht im mindesten beirren. Auch wenn sie nicht recht wußte, wie sie es ausdrücken sollte, ging es doch um folgendes, und das sollte er wissen: Männer waren anders. Es war unmöglich, die Zuneigung zwischen zwei
    Männern mit der Zuneigung zu vergleichen, die zwei Frauen füreinander empfinden konnten. Zwischen Frauen war sie etwas Normales, Spontanes und befand sich im Einklang mit ihren Instinkten. Wenn jedoch ein Mann einem anderen Mann seine Liebe erklärte, war das unnatürlich. Sie fügte allerdings hinzu, daß es sicherlich Fälle gebe, in denen Männer einander rein platonisch liebten.
    Platonisch! Das war eines jener Worte, die während ihrer nächtlichen Diskussionen ständig gefallen waren, eines jener Worte, die rot unterstrichen waren.
    »Sieh mal«, sagte sie, »glaubst du denn, ich könnte in deinen Armen liegen und mich dir so hingeben, wie ich es tue, wenn…«
    »Wenn was?«
    »Ach, das ist alles so idiotisch! Du machst alles so
    kompliziert, du machst alles so häßlich. Wirklich!

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