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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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gewesen, und durch seine überragende Kunst hatte er sie in eine edle,
    unvergeßliche Musik verwandelt.
    Parallel zu diesen Betrachtungen entwickelte sich in ihm ein zweiter Gedankengang: Ihm wurde bewußt, daß er in Kürze seinen betagten Eltern gegenüberstehen, ihre fragenden Blicke sehen und versuchen würde, aus ihren Köpfen durch sinnloses Schwätzen das quälende Wissen zu verbannen, daß er Jahre seines Lebens verschwendet hatte. Dies war es, was jedes Weihnachtsfest zu einer Zeit der Bitterkeit und Reue, der Melancholie und Zerknirschung machte. Jedes Jahr
    versammelten sie sich um den knarrenden Tisch, und dann begann eine Art stummer Berechnung, ein Versinken in der Vergangenheit und ihren Torheiten und Ziellosigkeiten, ihren Schmerzen und Enttäuschungen. Es war unvermeidlich, daß irgendwann im Verlauf dieses Festtages die Vergangenheit erwähnt wurde – die vielversprechende Zukunft, die er einst gehabt hatte, die Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten, und so weiter. Es war, als ob irgendwann – er konnte sich nicht erinnern, wann – eine Linie gezogen worden wäre, eine Grenze, welche die Hoffnung an einen weit entfernten Ort, auf die andere Seite der Alpen verbannt und die Verzweiflung in die Nähe gerückt hatte, in das graue, trübselige Tal der Zukunft. Und doch mischte sich in diese bedrückende
    Atmosphäre eine zärtliche, unerklärliche, distanzierte Vergebung, eine melancholische Sympathie, wie man sie
    Verrückten oder Blinden zuteil werden läßt.
    Das Buch lag immer schwerer in seiner Hand. Seine Augen kehrten zum Text zurück und lasen diese eigenartigen Worte:
    »Wir fühlen uns zu jedem Leben hingezogen, das uns etwas Unbekanntes bietet, zu einer letzten Illusion, die zerstört werden muß…« In diesem Augenblick trat Vanya in ihrem
    Nachthemd und kniehohen Stiefeln aus ihrem Zimmer. »Die zerstört werden muß, die zerstört werden muß…« Die Worte wiederholten sich wie ein Refrain – nein, vielmehr wie ein Ton, den ein unsichtbarer Sänger hält, wenn ein winziger Kratzer in der Platte die Nadel daran hindert, ihren
    vorgeschriebenen Weg fortzusetzen. Vanya stand vor ihm, eine heruntergekommene Schlampe, und der Plattenspieler in
    seinem Kopf wiederholte immer wieder: »…die zerstört
    werden muß… die zerstört werden muß…« Fasziniert von dem Gedanken, was für eine eigenartige Wirkung es haben würde, wenn er diesen schwingenden Ton hier und jetzt zum
    Explodieren bringen würde, brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus – ein lautes, unbezähmbares Gebrüll, das Hildred aufspringen ließ.
    »Eine fabelhafte Methode, mich aus dem Bett zu jagen!«
    schrie sie.
    »Fröhliche Weihnachten!« rief er. »Und holt die Kuhglocke raus!«
    »Er ist immer noch betrunken«, sagte Vanya mit dick
    aufgetragenem Ekel.
    »Nein, du alte Schreckschraube, ich bin nicht betrunken…
    Danke übrigens für das Hemd. Es ist prima, nur nicht meine Größe.«
    Während sie ins Badezimmer wankten, zündete er eine Kerze an und untersuchte die Matratze. Was für eine Nacht!
    Gardenien und Chartreuse, Marcel Proust und
    Schwefelgestank… Und Dredge hatte vorbeigeschaut, um
    ihnen »Fröhliche Weihnachten« zu wünschen, war aber bis vier Uhr morgens geblieben und hatte über Läuse und die mikrokosmischen Heerscharen in den Untertassen voller
    Petroleum geredet. Er wandte sich von der Matratze dem Kotztisch zu. Er war übersät mit Zigaretten, leeren Flaschen, zerbrochenen Schachfiguren, belegten Broten, Gardenien, Sodom und Gomorrha, Mistelzweigen, Karikaturen der Bruga-Frau, den Splittern der Schallplatte mit einer Aufnahme des Feuervogel. Auf dem Sessel lagen die Geschenke, die Hildred von ihren Verehrern bekommen hatte: seidene Strümpfe,
    Büstenhalter, Parfüm, Halstücher, Zigaretten, Bücher,
    Süßigkeiten, Schnapsflaschen (allesamt leer), Maniküre-Sets, Tiegel mit Gesichtscreme, schwarze Slips – genug, um ein paar Seiten eines Versandhauskatalogs zu füllen. Er legte einige Sachen beiseite, die er seiner Familie mitbringen wollte.
    Seine Mutter hatte schon immer Hildreds Strümpfe bewundert; es machte nichts, daß die Größe nicht ganz stimmte – sie waren teuer, und das war es, worauf es ankam. Für seinen Vater suchte er eine Stange »Camel« aus und für seine
    Schwester ein Maniküre-Set, das sie zwar vermutlich nie benutzen, für das sie ihm aber trotzdem dankbar sein würde.
    Für diese Kleinigkeiten, die er aus dem Haufen herauszog, würde er den

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