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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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führst nicht das richtige
    Leben«, sagte sie. »Es ist nicht fair, daß du Hildred so schuften läßt. Du solltest langsam etwas aus dir machen.« Er mußte sich noch einmal anhören, wie sinnlos es war zu glauben, er könnte es mit dem Schreiben zu etwas bringen. Gekritzel nannte sie es. »Früher hast du so gut verdient… Aber jetzt lebst du wie ein Faulpelz, läßt dich treiben und hast kein Geld, nichts, gar nichts. Eines Tages wirst du das bereuen. Und was soll aus Babette werden, wenn wir nicht mehr da sind? Denkst du nie an sie? Denkst du denn nie an die Zukunft?«
    »Natürlich tue ich das, Mutter«, antwortete Tony Bring.
    »Aber…«
    »Aber! Das ist alles, was du sagst: immer aber!«
    »Aber, Mutter, hör mir doch zu…«
    Sie hob überdrüssig die Hand. Es war sinnlos zu versuchen, ihr etwas vorzumachen; sie war zu alt, um auf diesen Unsinn hereinzufallen. Babette hörte ihrer Mutter zu, mit großen, ernsten Augen, deren Anblick ihn schmerzte. Arme Babette, dachte er, was soll ich nur mit ihr machen?
    Inzwischen war sein Vater eingeschlafen. Der kahle Kopf war auf dem knochigen Hals nach vorn gesunken, der
    Unterkiefer war heruntergeklappt, so daß der Mund, mit eigenartiger, totenähnlicher Starre, offen stand. Ein paar dünne Strähnen des grauen Haars, das den Schädel über den großen Ohren in einem Kranz umgab, standen vom Kopf ab. Wie eine Mumie, dachte Tony Bring. Genau wie eine Mumie, mit
    echten Haaren und einer Haut, die sich straff über die Knochen spannt…
    Es klingelte an der Tür. Es war ein Nachbar, der sehen wollte, was für einen schönen Weihnachtsbaum sie hatten. Im Verlauf der sehr sprunghaften Unterhaltung kam er immer wieder auf Kain und Abel zu sprechen. Niemand zeigte jedoch das geringste Interesse für dieses Thema. Man lenkte das Gespräch bewußt wieder auf den Weihnachtsbaum und reichte ihm Teile des Baumschmucks zur Begutachtung. Er blieb nur ein paar Minuten, und dann, so kam es Tony Bring vor,
    komplimentierte man ihn wieder hinaus. Als man ihn in der Eingangshalle zur Tür schob, blieb er stehen und
    verabschiedete sich noch einmal von Tony Bring. Er wünschte ihm ein sehr schönes Weihnachtsfest und fragte ihn dann – so beiläufig, als erkundigte er sich nach dem Weg zur U-Bahn –, ob er vielleicht wisse, wo das Land Nod liege.
    »Mein Sohn liest nicht in der Bibel«, sagte Tony Brings Mutter, ergriff die Hand des Besuchers, schüttelte sie kräftig und öffnete die Tür. Als er gegangen war, erklärte sie, der arme Mann habe kürzlich Frau und Kinder verloren.
    »Er ist religiös«, sagte Babette.

    Ob es an dem Nickerchen lag oder eine Folge des tröstlichen Gedankens war, daß er selbst einem solchen traurigen
    Schicksal mit knapper Not entgangen war – jedenfalls erwachte der alte Herr plötzlich und legte ein wenig von seinem alten Schwung an den Tag. Er holte ein Berlitz-Lehrbuch hervor und erklärte seinem Sohn, er lerne nun Französisch. Es sei, wie er sich ausdrückte, sehr praktisch, diese Sprache zu beherrschen. Er könne »Guten Tag«, »Wie geht es Ihnen?« und »Fahren Sie mich zum Gare St. Lazare –
    ich habe es eilig« sagen. Diese kleinen Sätze seien nützlich, für den Fall, daß er eines Tages nach Frankreich reisen würde.
    Was ihn verwirrte, waren Wörter wie beispielsweise fut. Er wußte nie, ob das wie »fut« oder wie »fü« ausgesprochen wurde.
    »Darüber würde ich mir nicht allzu viele Gedanken machen, Vater«, sagte Tony Bring. »Wahrscheinlich fährst du ja doch nie nach Frankreich.«
    Hildred und Vanya mußten zum Abendessen geweckt
    werden. Sie benahmen sich, als wären sie zu Hause: Sie grummelten vor sich hin, rieben sich verschlafen die Augen, gähnten, riefen sogleich nach Zigaretten und kitzelten einander. Schließlich fiel es ihnen ein, einen Ringkampf zu beginnen, was der alte Herr ziemlich amüsant fand. »Sie ist wie ein Mann, nicht wahr?« sagte er. In diesem Augenblick rollten die beiden auf den Boden. Ihre Röcke waren bis zum Hals hinaufgerutscht, und man konnte ihren Busen sehen.
    Gleichzeitig hörte man ein lautes Knacken. Babette kam ins Zimmer gerannt, um nachzusehen, was passiert war. Vanya und Hildred saßen auf dem Boden und brachten ihre Kleider in Ordnung, als Tony Brings Mutter eintrat.
    »Sie haben das Sofa kaputtgemacht, Mutter!« rief Babette.
    Alle sahen auf das Sofa und waren so still und ernst, als wäre gerade jemand gestorben.
    »So gebt ihr also auf die Sachen anderer Leute acht«, sagte Tony

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