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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Fortschritte, daß sie nicht mehr eine Wissenschaft war – sofern sie das je gewesen war –, sondern eine Kunst. Die Kunst, das Leben zu verlängern, mit künstlichen Mitteln. Ach, wenn es die Reichen nicht gäbe, auf welche Weiterentwicklung müßte man dann verzichten, auf welche Feinheiten, auf welche Komplexitäten! In den Körpern der Reichen wucherten die Krankheiten. Welch herrliche Rosen blühten auf diesen edlen Misthaufen, welch wunderbare Geschwüre! Aus Tattergreisen und Hyänen konnten die
    Männer der Medizin inzwischen fast schon Schmetterlinge machen. Fortschritt… Fortschritt… Vor hundert Jahren noch war der Baum des Lebens von rasch fortschreitender Fäule befallen gewesen – doch heute blühte und gedieh er, und er würde weiterhin blühen und gedeihen, bis der Stamm zu drei Vierteln aus Zement bestand.

    3

    Am Abend von Lincolns Geburtstag gab es einen
    Schneesturm, und zwischen Lincolns und Washingtons
    Geburtstag schneite es ab und zu. Alles war in Watte gepackt, so daß selbst die Aschen- und Mülltonnen hübsch aussahen.
    Und während der Schnee fiel, geschah etwas – wie in
    russischen Romanen, wie in der russischen Seele, wo es Gott und Eis und Schnee und Mord und Epilepsie gibt, wo die Geschichte sich verabschiedet, um der Natur Platz zu machen, wo auch in einem kleinen Zimmer Raum ist für das größte Drama, das je geschrieben worden ist, Raum für den
    unsichtbaren Gastgeber und für alle Menschen, Sprachen und Klimate. Am Abend von Lincolns Geburtstag, kurz bevor der Schneesturm hereinbrach, ging Hildred in einem Samtkleid aus dem Haus, um einen Brief zum Briefkasten zu bringen. Sie blieb drei Tage und drei Nächte fort, in einem Samtkleid, das vorn mit hohlen Silberkugeln besetzt war. Es waren
    sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, allesamt leer, und jede von ihnen hatte Riefen, die sich für ein mikroskopisch kleines Wesen, das imstande war zu sehen, zweifellos genauso ausgenommen hätten wie die Marskanäle für das menschliche Auge. Während ihrer Abwesenheit klingelte das Telephon nicht ein einziges Mal, und auch nicht einer der verkrüppelten, greisen und verblödeten Boten der Telegrammgesellschaft läutete an der Tür, um einen unverschlossenen Umschlag und –
    mit der Aufforderung: »Hier unterschreiben!« – einen drei Zentimeter langen Bleistiftstummel mit abgebrochener Mine zu präsentieren. Die Welt war in Watte gepackt, und die Watte gab nichts preis.
    Tony Bring lag in seinem Bett, und Vanya lag in ihrem. Am ersten Tag fragte sie machst du dir keine Sorgen, und er antwortete nein. Am zweiten Tag fragte Vanya was wirst du jetzt unternehmen, und er antwortete nichts. Am dritten Tag sagte Vanya ich werde die Polizei benachrichtigen, und er gab keine Antwort. Aber anstatt die Polizei zu benachrichtigen, ging sie aus und betrank sich, und als sie zurückkam,
    schwadronierte sie von Kathedralen und Ratten und Athleten mit Stiernacken; sie hörte sogar auf, originell zu sein, und bezeichnete sich als »Pfeil der Sehnsucht nach dem anderen Ufer«. Gegen Morgen begann sie falsch zu singen und zu schreien und zu kreischen, und sie stand auf und hielt mit ihren schmutzigen Händen die Wände auseinander. Die dänischen Schwestern hämmerten mit ihren Schuhen auf den Boden. Da dies keine Wirkung zeitigte, blieb als einzige Möglichkeit, sie mit einem Eimer voll kaltem Wasser zu übergießen, und das tat man dann auch. Darauf schlief sie so friedlich, als hätte man sie in eine Zwangsjacke gesteckt. Am Morgen ging die Tür auf, und Hildred trat ein. Ihre Augen waren glasig, und das einzige, was sie als Erklärung sagte, war, daß sie einen Dichter kennengelernt habe, und nachdem sie das gesagt hatte,
    taumelte sie ins Bett, ohne zuvor das Samtkleid auszuziehen, das jetzt nur noch mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Silberkugeln besetzt war, allesamt leer und jede von ihnen voller Riefen.
    Sie schlief sehr, sehr lange, und als sie erwachte, wußte niemand, ob es sieben Uhr morgens oder sieben Uhr abends war. Sie öffnete das Fenster und sammelte eine Schüssel voll Schnee. Dann ging sie einkaufen und sagte, wie schön es sei, draußen zu sein. Zwei Dinge seien gut für die Haut, nur zwei: ein feuchtes Klima, wie es in England herrsche, und nasser Schnee. Ganz gleich, welches Thema sie anschnitt – sie hatte nur Schnee im Kopf. Ihre Augen waren noch immer glasig, und ihr Kopf war klar, wenn auch seltsam klar, schneeklar, und als sie gegessen hatte, erbrach sie sich, und

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