Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
Vom Netzwerk:
Schultern, wuscheligem dunklen Haar und lächelnden dunkelblauen Augen. »Entschuldigung«, sagte er und griff nach ihrem Arm, als ob er befürchtete, sie könnte stolpern. »Ich habe nicht aufgepaßt.« Sie nahm ihn in Augenschein: teurer hellblauer Pullover, teure lässige Hose aus edlem Wollstoff, ein schwerer Goldring mit einem Tigerauge als Stein. Zumindest würde er sie nicht anbetteln wollen.
    Sie murmelte etwas Belangloses und ging weiter, in Richtung ihres Wagens. Er lief neben ihr her. »Ich habe gelogen«, sagte er. »Ich habe Sie von der anderen Straßenseite aus beobachtet, und ich wußte, daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe. Johns Hopkins, vor zwei Jahren. Ich wollte auf gleiche Höhe mit Ihnen kommen und Sie nicht umrennen, wissen Sie.«
    Sie ging weiter, doch sie betrachtete ihn erneut. Dreißig vielleicht? Fünfunddreißig?
    »Ich hatte Jud Myers gebeten, daß er uns miteinander bekannt macht«, fuhr er fort. »Doch irgendwie hat das nicht geklappt.«
    Jetzt blieb sie stehen, und zwei Frauen prallten von hinten auf sie, trennten sich wie Wasser, das Felsbrocken umströmt, und brummten etwas von der Rücksichtslosigkeit mancher Leute. »Sie kennen Jud?«
    »Nun ja, nicht näher. Ich könnte nicht behaupten, daß er zu meinen besten Freunden gehört oder so, aber damals kannte ich ihn.«
    Der Menschenstrom war zu stark, als daß sie mitten auf dem schmalen Bürgersteig hätten stehenbleiben können. Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem Steg. Unter ihnen schwappten die vom Wind gekräuselten Wellen des grauen Wassers des Sunds, Boote schaukelten, Möwen drehten schwebend große Runden. Die Gipfel der Berge waren in Wolken und Dunst verschwunden. Es roch nach Fisch, frischem, lebendem Fisch im Wasser, Fisch in Pfannen, gebraten, gebacken, im Fett brutzelnd. Es fing an zu regnen.
    »Hören Sie, lassen Sie uns einen Kaffee zusammen trinken, ja? Sie sind seit über einem Jahr der erste Mensch, dessen Gesicht mir bekannt ist, und auf einmal bekomme ich Heimweh. Verstehen Sie?«
    Sie nickte. Sie hatte seit fast drei Monaten Heimweh. Er nahm ihr die Einkaufstüte ab, und sie hasteten zu einem kleinen Fischrestaurant an der Mole, wo sie am Fenster sitzen und auf den Sund hinausblicken konnten.
    Von diesem Augenblick an schien alles auf eine so natürliche Art und Weise abzulaufen, daß es fast aussah, als ob es so geplant gewesen wäre. Zunächst stellte er fest, daß er riesigen Hunger hatte, und sie stellte das gleiche bei sich fest, das führte dazu, daß sie etwas zu essen bestellten und sich weiter unterhielten. Es ergab sich, daß sie außer Jud tatsächlich keinerlei gemeinsame Bekannte hatten, da Morris – so hieß der Mann – Jura studiert hatte und sich ihre Vorlesungszeiten nicht überschnitten hatten. Er fragte, was sie mit den Töpfen vorhabe, und sie antwortete, daß sie noch in ein Pflanzengeschäft gehen und Topfblumen und Blumenerde kaufen wollte, und er wußte, wo ein solches Geschäft war, und bot an, sie hinzubegleiten. Als sie zögerte, grinste er und sagte, daß er es ihr nicht übelnähme und daß er ihr dann eben eine Skizze machen würde, damit sie den Weg allein fände. Er zeichnete den Weg auf der Rückseite einer seiner Geschäftskarten auf.
    Zweimal war sie nahe daran, ihm von dem rothaarigen Mann zu erzählen, der in einem blauen Glühen verschwunden war, doch jedesmal hielt sie sich zurück. Das hieße, eine neue Bekanntschaft auf eine allzu schwere Probe zu stellen. Sie war noch nicht einmal in der Lage gewesen, ihrer Mutter etwas davon zu erzählen. Sie hatte deren Nummer gewählt und dann den Hörer wieder aufgelegt, bevor abgenommen wurde. Das war am Freitag abend gewesen, als sie an nichts anderes denken konnte als an diesen Vorfall, ohne sich eigentlich klar darüber zu sein, was nun wirklich passiert war. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt über nichts anderes reden können. In diesem Sinne beriet sie auch ihre Patienten, erkannte sie mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit. Wie schrecklich, wie peinlich, wie aufregend oder langweilig irgendein Ereignis auch sein mochte, im Laufe der Zeit verlor jedes Erlebnis seine Unmittelbarkeit und verschmolz mit allem anderen zur Vergangenheit. Sie empfand ein leichtes Gefühl des Unbehagens, daß sie fähig war, ihr eigenes Erlebnis so schnell zu verdrängen, doch andererseits war sie dafür dankbar.
    Nach einiger Zeit begleitete sie Morris zurück zu ihrem Auto und stellte die Einkaufstüte auf den Rücksitz. »Ich rufe

Weitere Kostenlose Bücher