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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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Sie an«, sagte er, als sie einstieg. Als sie davonfuhr, sah sie im Rückspiegel, daß er dastand und ihr nachblickte. Sie hätte singen mögen.
    So war das also, wenn man »aufgerissen« wurde. Ihren hübscheren Schwestern war das oft genug widerfahren, doch ihr noch nie. In ihren Teenagerzeiten war sie um so vieles größer als die Jungen gewesen, und während der Zeit am College hatte sie sich daran gewöhnt, daß sie diejenige war, die man nicht ins Kino einlud, nicht auf den Sportplatz mitnahm, und mit der man auch sonst nichts unternahm. Die drei Männer, mit denen sie bis jetzt geschlafen hatte, hatten sich alle peinlich schnell verdrückt. Inzwischen hatte sie ein Verhalten entwickelt, das manche als Arroganz bezeichneten, während sie wußte, daß es unüberwindbare Schüchternheit war, und im übrigen hatte ihr der Sex ohnehin nicht allzugroßen Spaß gemacht. Sie hatte es nie geschafft, ihre Befangenheit abzuwerfen, nicht einmal während des Liebesakts, und sie hatte sich gefragt, ob es bei allen Frauen wohl so war und sie alle etwas vortäuschten. Doch Morris war so groß, daß sie zu ihm paßte; er würde sich nicht von ihr bedroht fühlen. Sie hatte nicht ein einziges Mal beobachtet, daß er ihre großen Hände und Füße angegafft hätte. Und wenn er gegafft hätte, wäre es ihr nicht entgangen. Sie war empfindlich, was Gafferei betraf.
    Als sie zu Hause ankam, parkte sie in der unteren Tiefgarage, stellte den Aufzug auf Halt und verfrachtete ihre Errungenschaften hinein. In ihrem Stock schaltete sie wieder auf Halt und lud alles aus; es war viel mehr, als sie zu kaufen vorgehabt hatte, doch die Farblosigkeit ihres Büros und ihres Apartments deprimierten sie, redete sie sich selbst ein, und sie begann, die Sachen nach und nach aus dem Flur in ihre Wohnung zu schaffen. Sie bestand aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer, einer Eßecke und einer Küche sowie einem winzigen Abstellraum. Sie kam sich darin wie eine Gefangene vor. Alles hier, wie auch in ihrem Büro, war von abgetöntem Weiß – die Wände, die Vorhänge, das Holz. Der Teppichboden war im Mietvertrag als goldfarben aufgeführt, doch in Wirklichkeit war er einfach nur braun. Sie hatte sich eine Couch angeschafft, eine blaue, außerdem einen Eßtisch mit hellem Furnier, das sich an einer Ecke ablöste, zwei nicht passende Stühle sowie ein Bett und einen Frisiertisch. In sechs Monaten würde sie eine Gehaltserhöhung bekommen, hatte Peter ihr versprochen, und bis dahin konnte sie sich keine weiteren Möbelkäufe leisten. Immerhin hatte sie Bücherregale, und die waren voll. Sie hatte Kisten aufrecht hingestellt, um zusätzlichen Platz für Bücher zu haben, und das war gar nicht so schlecht, und jetzt, mit den Pflanzen, sah das Ganze sogar ziemlich wohnlich aus.
    Sie setzte ihre Einkaufstüten auf dem Tisch ab, schaltete das Stereogerät ein, das sie von ihren Eltern zum sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und dann suchte sie Morris’ Privatadresse im Telefonbuch heraus. Sie prüfte auch seine Büronummer nach. Nicht, daß sie annahm, er hätte sie in irgendeiner Hinsicht belogen, doch sicher war sicher, und jetzt könnte sie abwarten, wie sich alles weiterentwickelte. Sie hängte ihren Regenmantel auf und versorgte ihre Pflanzen, während sie mit der Musik mitsummte.
     
    Morris Pitts hatte nur in einer Hinsicht gelogen, nämlich, daß er Jud Myers gekannt hätte. Er hatte von Jud gehört, der damals der Präsident der Studentenvertretung gewesen war, als Morris am Johns Hopkins College studierte. Morris war dazu erzogen worden, niemals zu lügen, wenn die Wahrheit den gleichen Zweck erfüllte. Lügen wurden meistens entlarvt, und wenn man einmal zum Lügner abgestempelt war, wurde man diesen Ruf sein Leben lang nicht mehr los. Mit Ausnahme dieser kleinen Schwindelei hatte er nicht gelogen, doch er hatte einiges ausgelassen. Er hatte nicht erwähnt, daß er aufgrund seiner Größe dazu ausersehen war, diesen Kontakt herzustellen. Wenn er einssiebzig oder auch einsachtzig gewesen wäre, wäre er nicht losgeschickt worden, um die Bekanntschaft Lauren Steeles zu machen. Musselman hatte ihn persönlich ausgewählt. Gut über einsachtzig, in den Dreißigern, mit angesehenem Beruf hatte er als Voraussetzungen verlangt, und auf dem Computerbildschirm war Morris’ Name erschienen. Ein Mädchen wie dieses, hatte Musselman gesagt, mußte total neurotisch sein, sexuell unbefriedigt, unterdrückt, vielleicht sogar lesbisch oder

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