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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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wahrscheinlich nannte man ihn so. Lauren wandte sich der Tür zu, dann drehte sie sich noch einmal um. »Billy, ist er knapp über einssechzig, mit roten Haaren? Künstler?«
    Die Frau hatte den Blick wieder auf die Zeitschrift gesenkt und angefangen weiterzulesen. »Künstler!« prustete sie. »Das wär’ noch so was! Er ist ungefähr so groß, bestimmt einsneunzig, hat eine Glatze und handelt mit Motorrädern.« Sie blätterte um.
    »Danke«, sagte Lauren, ohne eine Antwort zu erwarten; sie bekam auch keine. W. Corcoran konnte sie streichen. Sie ging wieder hinaus in den Regen. Es goß wie unter einer allgegenwärtigen Dusche, und der winzige Schirm, dekorativ und für Seattle ein Witz, schützte sie kaum. Sie hätte einen großen, schwarzen Schirm gebraucht, die Art, wie man sie über britischen Regierungshäuptern sah. Sie eilte zurück zu ihrem Wagen, dem leuchtendsten Fleck weit und breit an diesem trüben Nachmittag, und studierte die vereinfachte Karte, die sie gezeichnet hatte, um sich zu merken, wie sie von hier aus am besten in die Gegend von Fremont kam. Das Problem war nun, wie sie sich eine Stunde später eingestehen mußte, daß sie Einbahnstraßen nicht berücksichtigt hatte, ebensowenig wie die vielen wegen Bauarbeiten gesperrten Straßen – zerstörten sie die Stadt absichtlich, damit sie wie Phönix aus der Asche danach größer und besser auferstehen sollte? – und Schnellstraßen ohne Auffahrtmöglichkeit. Sie war hoffnungslos verloren in einem Viertel, das Woodland Park hieß. Ohne den großen Stadtplan, den sie zu Hause gelassen hatte, wohl wissend, daß sie während des Fahrens sowieso nicht daraufschauen konnte, konnte sie nicht ahnen, daß sie sich nur zwei Blocks von dem Haus entfernt befand, in dem Corky während des letzten Jahres in einer Atelierwohnung im vierten Stock gewohnt hatte.
    Und Corky, völlig verstört durch seine Situation, durch die Reaktion des Polizisten und wegen seiner Unfähigkeit, sich selbst zusammenzuhalten, schwebte kreuz und quer durch das Viertel, körperhafter denn je, seit ihn der Computer namens Big Mac ausgelöscht hatte, doch immer noch nicht ganz vollständig. Die Teile befanden sich jedoch inzwischen alle in einem enger begrenzten Bereich, und die meisten waren immerhin im Fremont-Viertel. Es gab einen schwachen Mittelpunkt, der Corky war; er war zu schwächlich, um den Rest an sich zu ziehen, doch hielt er gut genug zusammen, daß Corky Gedanken haben konnte, die nicht einfach die Gedanken von irgend jemand x-beliebigem waren. Er befand sich in der Universität, bei seinem alten Geschichtsprofessor Daniels; er war bei Mama Goedtz im Lebensmittelladen; er war mit Joanna in der Praxis des Arztes, wo sie arbeitete; er schnupperte die Luft mit den Hafendüften und fand sie gut; und er war die Frau, die als Verkehrslotse eine Gruppe von Kindern über die Straße leitete, und die Kinder war er auch. Er spürte ein sonderbares Zerren in sich und widersetzte sich ihm; es war, als ob jedes einzelne Teilchen in ihm einer eigenen Bestimmung gerecht werden, mit allem verschmelzen, alles sein müßte, doch er, Corky, der Mittelpunkt, hatte eine andere Bestimmung. Er mußte nur zurückkehren zur Normalität, wieder er selbst sein und sich vom ganzen Rest der Welt absetzen. Das Tauziehen in seinem Innern ließ nicht nach, und er war zu schwach, um zu gewinnen, zu leicht bereit, aufzugeben.
    Er war bei Lauren, die kreuz und quer durch die Straßen um den Zoo herum fuhr, und er war bei dem Spezialagenten, der ihr im Zustand gesteigerter Wachsamkeit folgte, überzeugt davon, daß sie versuchte, ihn abzuschütteln, daß sie unterwegs zu einem Treffen war. Warum würde sonst jemand bei Regen in den Zoo gehen? Der Mittelpunkt war in seiner Atelierwohnung und suchte nach etwas, an das er sich halten könnte, etwas, das ihm einen sicheren Hort bieten würde, von dem aus er alle anderen Teilchen zusammensammeln und nach Hause bringen könnte. Seine Karikaturen waren verschwunden, seine Notizbücher waren verschwunden, alle seine Skizzenbücher waren verschwunden. Selbst seine Post, so belanglos sie auch war, war verschwunden. Die Wohnung sah öd und leer aus. Sie war durchwühlt worden, Schubladen standen offen, und ihr Inhalt lag verstreut herum; die Matratze war aus dem Bett gezerrt, die Couch auf den Kopf gestellt worden. Für einen kurzen Moment war genug von Corky gegenwärtig, um ein Buch in die Hand zu nehmen; dann war er wieder weg, das Buch fiel zu Boden, und nur der

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