Verrückte Zeit
Kinder.«
Sie schloß die Augen. Geisteskrank. Sie war wahrhaftig geisteskrank. Ihre Familie war so solide, so anständig, so stabil, dies war lächerlich. Eine Phantasiefamilie?
»Na ja, jedenfalls besuchte ich ein Jahr lang in Texas das College, ohne großen Erfolg. Ich legte ein Jahr in Berkeley ein und wurde gefeuert. Dann folgten ein halbes Jahr an der Kunstschule in Rhode Island, ein paar Monate am City College in New York, und dann machte ich mich auf nach Westen.«
»Warum?« fragte sie leise.
»Das weiß ich bis heute nicht. Damals kam mir das einfach gut vor. Vielleicht, weil ich von den Pferden weg wollte.«
Sie machte sich eine Notiz. Die ersten sexuellen Phantasien eines Mädchens in der Pubertät, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, es zu zähmen und zu beherrschen. War sie in den Westen gekommen, um von den Pferden weg zu sein? Vom Sex? Von der Liebe? Sie schüttelte den Kopf. Sie war in den Westen gekommen, weil sie hier Aussicht auf einen Job hatte. Sie dachte an Johanna von Orleans in ihrer Rüstung, wie sie auf ihrem weißen Pferd in die Schlacht ritt und eine ganze Armee in einer heiligen Sache anführte; sie schüttelte noch heftiger den Kopf. Unsinn.
»Was ist los?« fragte Corky, der jetzt endlich sein Skizzenbuch beiseite legte.
»Nichts. Darf ich sehen, was du gezeichnet hast?«
Er reichte es ihr, und sie betrachtete erstaunt die erste Seite. Er hatte ihre Füße gezeichnet! Sie blätterte um – wieder ihre Füße. Und ihre Hände. Sie brach in Tränen aus.
»Was habe ich falsch gemacht? Lauren, bitte, was ist los? Weine nicht, bitte!«
Sie dachte daran, daß sie sich geschworen hatte, alles, was ihr in den Sinn kam, dem Tonband anzuvertrauen, alles, das irgendwie im Zusammenhang mit ihrer Krise eine Rolle spielen könnte. Mit erstickter, schluchzender Stimme fing sie an: »Meine Mutter und meine beiden Schwestern tragen Schuhgröße siebenunddreißig. Sie alle. Als ich neun Jahre alt war, paßten mir die Schuhe meiner Schwester nicht mehr. Ich versuchte, mir die Füße zu bandagieren, wie es die Chinesinnen früher machten, aber morgens mußte ich die Binden wieder abnehmen, und es brachte nichts. Sie wurden immer größer.« Sie weinte noch hemmungsloser. »Frankenstein-Füße!« Dann fuhr sie hoch, versuchte, sich gerade hinzusetzen. »Was machst du da?«
Er streichelte ihren Fuß. Er küßte die Sohle und fuhr mit der Wange über den Spann. »Dies ist der hübscheste Fuß auf der Welt«, sagte er zärtlich. »Der schönste Fuß, den ich je gesehen habe. Eine so wundervolle Form, so herrliche Rundungen. Jeder Zeh ist vollkommen. Und ganz besonders der kleine. Ich würde ihn mir gern in die Tasche stecken und ihn von Zeit zu Zeit herausholen, um ihn zu liebkosen.« Er küßte jeden einzelnen Zeh.
Sie stöhnte vor Lust auf, und mit einemmal wußte sie, daß sie ihn haben wollte, oder es oder sie, ihre Halluzination, was immer es war, und zwar jetzt gleich. Sie spreizte die Beine und zog ihn zu sich.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
In der Nacht stand Corky auf und legte im Kamin Holz nach. Der Wind hatte aufgefrischt; er rüttelte an den Fenstern, erzwang sich Einlaß ins Haus, verursachte hier und da kleine Luftwirbel. Corky saß auf der Couch, starrte in die Flammen und versuchte dahinterzukommen, was mit ihm geschehen war. Lauren schlief.
Er könnte sie nicht im Stich lassen, was auch sonst passieren mochte. Wenn er ihr letzte Woche nicht gefolgt wäre … letzte Woche! Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Wenn er ihr nicht gefolgt wäre, wäre sie nicht in diese Sache hineingezogen worden. In welche Sache? fragte er, und die Antwort kam schnell. Trigger Happy Musselman glaubte, daß es einen Spionagering gäbe und daß sie dazugehörte. Und er glaubte, daß Corky umgebracht worden sei – durch irgend etwas aus den CaCo-Labors. Corky starrte ins Feuer, zusammengekauert, als ob ihn fröre, obwohl es im Zimmer ziemlich warm war. Woher wußte er das alles? Es war ihm bekannt, so wie ihm die Häuser, in denen er als Kind gewohnt hatte, bekannt waren, auf die gleiche Art, wie ihm seine Wohnung, die er in Berkeley hatte, bekannt war, die Art, wie ihm sein Bruder Timmy bekannt war. Er erinnerte sich, wie Trigger Happy sprach und sogar dachte, genauso, wie ihm all seine anderen Erinnerungen im Gedächtnis waren.
Morris Pitts arbeitete für Trigger Happy, auch das war eine Erinnerung. Vielleicht hatte Lauren recht, und er, Corky, war tot. Sein Großvater war dieser Meinung,
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