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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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sie war dieser Meinung, Trigger Happy war dieser Meinung und ebenso der lange, dünne Wissenschaftler. Er selbst war der einzige, der sich dieser Meinung immer noch nicht anschließen wollte. Doch er konnte nicht mehr ganz sicher sein. Wie konnte man beurteilen, ob es so war, wenn man tot war? Warum kam niemand, um ihn abzuholen und ihn dort hinzubringen, wo Tote sein sollten? Er müßte seinen Großvater anrufen und ihn beruhigen, daß er nicht tot war. Aber wie konnte er das, da er sich nicht einmal selbst so richtig davon überzeugen konnte? Er nagte an seiner Lippe herum und sah mit finsterem Gesicht ins Feuer. Er konnte seinen merkwürdigen neuen Muskel einsetzen und sich irgendwohin begeben, Leute belauschen, beobachten, sie sogar berühren; doch er erinnerte sich daran, was Trigger Happy gedacht hatte, was ihm im Kopf herumging. Und das war unmöglich.
    Er rief sich noch einmal in allen Einzelheiten den Abend, an dem alles angefangen hatte, ins Gedächtnis zurück, und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was in den Tagen danach geschehen war. Er erinnerte sich, daß er seinen Großvater gesehen hatte, der ihn für tot hielt. Wie war er dorthin gekommen? Keine Erklärung. Er erinnerte sich, wie er beim Mittagessen mit Lauren und Morris dabei war und eine Szene heraufbeschworen hatte. Er erinnerte sich, wie er sich in Morris’ Apartment begeben hatte, und an den riesigen Mikrowellenherd, den er dort gesehen hatte. Das Chaos im Aufzug mit Lauren und den vielen anderen Leuten. Die Fahrt mit Laurens Verfolgern auf dem Weg zur Insel. Er erinnerte sich, daß er seine Skizzen- und Notizbücher mindestens zweimal gefunden hatte, einmal in einem Hotelzimmer, das andere Mal in einem Sicherheitsgewölbe. Joanna mit ihrem neuen Freund, sein eigenes durchwühltes Apartment, Morris und ein anderer Kerl, die in Laurens Wohnung herumschnüffelten. Langsam gingen ihm die Erinnerungen an die Ereignisse der Woche aus, und er wußte, daß er mit den bisherigen noch nicht viel anfangen konnte. Und Musselman? Wann war er ihm begegnet? Und wo? Woher wußte er, daß er Colonel war und unbedingt General werden wollte? Er stellte dieses Wissen nicht in Frage; er wußte es.
    Es gab gewisse Vorstadien seines … Zustandes, erkannte er. Jetzt zum Beispiel, dachte er, während er die Hand ausstreckte und sie von allen Seiten betrachtete, war er so normal wie eh und je. Er lokalisierte das, was ihm als Muskel bewußt geworden war, und spannte ihn, wobei er seine Hand beobachtete. Sie verschwand; er spürte sie noch genauso wie zuvor, aber sie war verschwunden. Stop! befahl er sich. Er spürte seinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Er fühlte sich normal. Es gab ein Stadium, in dem er sich nicht zusammenhalten konnte, erinnerte er sich, in dem seine Kleider einfach an ihm wegschmolzen. Er sah sich um, dann nahm er einen Bleistift und hielt ihn hoch. Er schwebte vor ihm. Er spannte den Muskel ein wenig stärker, und jetzt konnte er Lauren auf der Seite liegend sehen, einen Arm unter dem Kopf, auf ihrem Gesicht ein sanftes Lächeln, in gesundem Schlaf. Und auf diese Weise experimentierte er weiter. An einem bestimmten Punkt, den er bald kannte, fiel der Bleistift zu Boden und der Bademantel aus dem Kaufhaus sackte auf der Couch zusammen. Er sah ein Ehepaar auf Hochzeitsreise. Dilettanten, dachte er. Lauren und er könnten ihnen ein paar Dinge beibringen. Er sah die Familie in Nummer drei. Alle schliefen. Mr. Kirby saß vor dem Fernseher und arbeitete ein Horoskop aus, ohne in die Kiste zu sehen. Ein Kahn schaukelte durch die Meerenge, hochgehoben und in Wellentälern versinkend bei dem starken Wind.
    Der Mittelpunkt war hier, dann dort, wurde immer schwächer, je länger er mit seinem Experiment fortfuhr. Er verspürte den Drang, sich zerfließen zu lassen, spürte, wie die ganze Welt an ihm zerrte, das Bedürfnis, in alle Richtungen zu strömen, und hastig kehrte er ins Ferienhäuschen zurück; er atmete schwer. Dahin führte es also, stellte er fest. Das nächste Stadium waren Bewußtseinstrübung, Gedächtnisverlust, nichtverbrachte Zeit. Und das darauffolgende Stadium bescherte ihm Erinnerungen, die ihm sonst versagt geblieben wären. Er zog sich den Bademantel wieder an, frierend und von Angst erfüllt.
    Vielleicht war er tot und weigerte sich, vom Leben Abschied zu nehmen. Der Drang war stark, fast unwiderstehlich, und der Drang ging in Richtung Vergessen, doch er klammerte sich fest, kam immer wieder zurück. Ihm fehlten

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