Verrückte Zeit
alle waren in ständiger Bewegung, neigten sich, schwankten und glitzerten von dem kurz zuvor gefallenen Regen. Rings um sie herum reckten sie sich in die Höhe. Corky war von dem Anblick ebenso überwältigt wie sie.
»Als ob man in ein Märchen versetzt wäre«, flüsterte er.
Sie nickte, da sie genau verstand, was er meinte. Sie gingen weiter. Sie kamen zu einer Stelle, wo der Pfad schmaler wurde und an einer Schlucht vorbeiführte, die ebenfalls mit Farn gefüllt war, wie von einer zarten grünen Wolke. Und jetzt konnten sie auch das Dröhnen des Wasserfalls vor ihnen hören. Bei der nächsten Wegbiegung kam er in Sicht, ein glitzerndes weißes Band aus Wasser, das bis in alle Ewigkeit senkrecht herunterfiel, um in einen farngrünen Geysir zwischen den Felsen zu platschen.
»Ein Märchenland«, sagte Lauren und konnte ihre eigenen Worte wegen des Dröhnens nicht hören. Corky nahm lächelnd ihre Hand und nickte.
Nachdem sie den Wasserfall hinter sich gelassen hatten, wurde der Weg wieder steiler, und auf dem Kamm des Hügels wehte ein scharfer Wind. Hier oben war eine flache graue Felsfläche, die ringsum von einem Zaun umgeben war.
Langsam, mit zusammengekniffenen Augen gegen den Wind, umrundeten sie die Fläche. Es gab andere, höhere Berge auf der Insel, die die Sicht auf das Festland im Osten behinderten, doch fünfhundert Meter unter ihnen konnten sie die Schiffe durch die Meerenge von Juan de Fuca navigieren sehen, und jenseits davon war im Dunst die Insel Vancouver zu erkennen, ebenfalls mit hoch in den Himmel ragenden Bergen. Und dann entdeckten sie die schneebedeckten Gipfel der Olympic Mountains.
Corky deutete fast senkrecht nach unten, zu dem Strand, an dem die Jungen gespielt hatten und der jetzt leer war. »Siehst du«, brüllte er, um den Wind zu übertönen, »dort diesen Holzklotz, der in der Brandung vor- und zurückrollt?« Sie nickte. »In gerader Linie davon am Strand, siehst du dort den glänzenden Gegenstand? Eine Dose, Coca Cola oder Bier. Siehst du sie?«
Die Sonne brach sich auf der Dose, verstärkte das Glänzen, so daß das Hinsehen in den Augen weh tat. Sie nickte wieder.
»Lauren, ich weiß, du glaubst nichts von dem, was ich gesagt habe. Aber wenn ich jetzt dort unten auftauche und diese Dose ins Meer werfe, bevor du bis fünf zählen kannst, dann glaubst du mir wenigstens ein kleines bißchen, ja?«
Der Blick, den sie ihm zuwarf, war vernichtend. Schweigend zog sie die Schultern gegen den kalten Wind hoch.
»Nur eins«, sagte er. »Heb bitte meine Kleider vom Boden auf, damit sie der Wind nicht davonweht. Ich bin in einer oder zwei Sekunden zurück.«
Einen Moment lang hing das Sweatshirt schlaff in der Luft, bevor es zu Boden fiel. Die Jeans sackten zusammen. Sie starrte die Sachen an, dann konzentrierte sie sich auf die Dose am Strand und beobachtete, wie sie sich aus dem Sand erhob, in hohem Bogen ins Meer flog und in den Wellen verschwand.
»O lieber Gott«, flüsterte sie. Fast im gleichen Moment weigerte sie sich, ihren Augen zu trauen. Wenn sie in ihren Halluzinationen einen Phantomgeliebten sah, einen Geist, der ihr Essen aß, einen Begleiter, der mit ihr wanderte, dann war die Halluzination der geschleuderten Dose eine Kleinigkeit. Aber sie glaubte es nicht. Die beiden kleinen Jungen waren hinter einem Haufen aus Basaltstein hervorgekommen; sie standen jetzt am Rand des Wassers und sahen hinaus. Sofern sie sich diese Kinder nicht auch in ihrer Halluzination einbildete, so erkannte sie, dann hatte es Zeugen für den geheimnisvollen Wurf der Dose in die Brandung gegeben.
Corky hatte sich intensiv damit beschäftigt, sich ein Paar Hände zu schaffen, die körperhaft genug waren, um die Dose aufzuheben, doch sobald er sie abgeworfen hatte, stellte er fest, daß zwei Männer ihr Häuschen betraten. Er huschte vor ihnen hinein. Der eine von ihnen war schlank und sonnengebräunt, muskulös und durchtrainiert und gutaussehend in der Art der Typen in den Anzeigen der Männerzeitschriften. Der andere war über einsneunzig groß und breit wie ein Schrank. Seine Nase war anscheinend schon mehrfach gebrochen worden; seine Augen waren hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Keiner von beiden gab einen Laut von sich. Die Tonbänder, dachte Corky aufgeregt.
Das Gerät und die Bänder befanden sich immer noch auf dem Tischchen auf der einen Seite der Couch. Der große Mann bewegte sich leise ins Schlafzimmer, der andere durchsuchte das Wohnzimmer. Das Feuer
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