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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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ängstlich, hoffnungsvoll, bleich und kalt aussah, nahm sie Lippenstift und Haarbürste aus ihrer Handtasche.
    Am Tisch wies Morris den Kellner an, den restlichen Wein, die Gläser, alles bis auf eine elegante silberne Kaffeekanne und zwei Tassen und Untertassen aus dünnem Porzellan wegzuräumen. Keine Sahne, kein Zucker. Den Cognac ließ er ebenfalls mitnehmen; er war unberührt. Falls er zu dick aufgetragen hatte, dachte er, während er zu den Booten auf der Werft schaute, würde er ein paar Schritte zurückweichen und es etwas behutsamer angehen. Wenn sie herauskäme und ihr Haar hübsch gekämmt und ihren Lippenstift neu aufgetragen hätte, dann könnte er zum nächsten Schritt übergehen.
    Wenn du mit Fliegen angelst, dachte er, mußt du dir die beste Ausrüstung, die für Geld zu kriegen ist, besorgen, die besten Fliegen, die erfahrene Experten benutzen, und die beste Stelle im Fluß finden. Dann läßt du die Fliege das Wasser berühren, nur leicht berühren, dann ziehst du sie wieder zurück, senkst sie wieder auf die Wasseroberfläche, vielleicht noch einmal. Du übereilst nichts, verschreckst die Forelle nicht, planschst nicht herum und wirbelst keinen Schlamm auf, damit das Wasser trübe wird. Du spielst mit ihr, lockst sie ein bißchen, und wenn die Zeit gekommen ist, dann ziehst du dir eine hübsche, glitzernde, dicke Regenbogenforelle an Land. Und das Ulkige ist, dachte er, daß auch die Forelle Spaß an der Sache gehabt hat.
    Sie kam zurück, mit hübsch frisierten Haaren und frisch aufgetragenem Lippenstift. Er stand auf und rückte ihren Stuhl zurecht. Bevor sie sich wieder setzen konnte, nahm er ihre Hand und küßte sie.
    »Ich habe Sie vermißt«, sagte er zärtlich.
    Sie gingen hinaus zu seiner Jacht, dem Schwierigen Mädchen, und er zeigte ihr die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Navigation, die ihr alle nichts sagten. Die Hauptschlafkoje war so groß wie ihr Schlafzimmer, die Kombüse besser eingerichtet als ihre Küche und alle aufs feinste ausgestattet und möbliert. Der Salon war geräumig genug, um darin zu tanzen. Er zeigte ihr seine Seekarten, erklärte ihr, welche Inseln er besucht hatte und welche er vorhatte zu besuchen, eines Tages, fügte er mit fast trauriger Stimme hinzu, wenn es wieder Spaß machen würde. Die Inselgruppe San Juan, sagte er, hätte ihr ureigenes Mikroklima, das im Regenschatten der Insel Vancouver fast tropisch war. Er zeigte sie ihr auf der Karte, ohne sie dabei zu berühren. Ihr kam es so vor, als wäre er genauso nervös wie sie selbst, als hätte sich zwischen ihnen eine Spannung aufgebaut, die bewirkte, daß sie schnell zurückwich, wenn er ihr zu nahe kam, und er genauso schnell zurückwich, wenn sie zu dicht an ihn herankam.
    Die Jacht hatte Schlafplätze für zwölf Personen und brauchte eine Mannschaft von zwei Leuten, ihn selbst eingeschlossen. Man käme damit bis nach Hawaii, sagte er, oder bis nach Japan, überallhin. Sie glaubte es ihm.
    Am Spätnachmittag kam die Sonne heraus, und er eilte mit ihr zu einem Taxi, das sie zum Space-Needle-Aussichtsturm brachte, von wo er ihr die Berge zeigte, die Seen, die Kanäle, die Buchten. Dies war seine Welt, dachte sie, während sie auf die Stadt hinunterblickte, wo da und dort schon die Lichter angingen. Erhaben über den Krach, die Hektik, den Verkehrslärm und Dreck und die gehetzte Menge, die es eilig hatte, nach Hause zu kommen, Abendbrot zu essen und die Nachrichten zu sehen, oder auch etwas anderes. Er war an viel Geld gewöhnt, daran, daß ihm alles leichtgemacht wurde, sein Pfad geebnet war, ihn keine Schranken behinderten. Was wußte er von geistiger Gesundheit und geistiger Krankheit? Er hatte gesagt, daß an dem System etwas faul sei. Was wußte er vom System? Was wußte er von irgend etwas anderem außer von einem Leben in Sorglosigkeit und Wohlstand?
    »Was beschäftigt Sie?« fragte er und sah ihr eindringlich ins Gesicht.
    Die Sonne war untergegangen; der letzte Aufzug befand sich auf dem Weg aufwärts, und sie mußten sich von der oberen Plattform des Aussichtsturms hinabbegeben in die niedrigeren menschlichen Gefilde, um sich den anderen Besuchern anzuschließen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Von hier oben sieht alles so leicht aus. Man kann allen Kummer, alle Fragen und alle Probleme vergessen, man kann einfach so tun, als gäbe es sie gar nicht.«
    »Es braucht sie nicht zu geben, wenn man es selbst nicht will«, sagte er. Er ging nah an sie heran und sah ihr tief in die Augen,

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