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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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Mondsichel schien funkelnd auf die dunkle, staubige Shomali-Ebene, doch die überdimensionale Uhr am Handgelenk des jungen Militärpolizisten zeigte hartnäckig sechs Uhr abends. Bergzeit, dachte Kat, Heimatzeit. Irgendwo in Wyoming oder Montana setzte sich die Familie des Jungen gerade ohne ihn zum Abendessen.
    Innerhalb der Einrichtung hätte es im grellen Licht der Scheinwerfer, die immer wieder ausfielen, auch Mittag sein können. Zwei Teams der Spezialkräfte waren gerade aus den Bergen zurückgekehrt, und die alte Maschinenwerkstatt aus Sowjetzeiten, die als Aufnahmestation diente, war überfüllt und chaotisch. Es roch nach abgestandenem Schweiß und Urin, nach Hunderten ungewaschener Körper in einem stickigen Gebäude.
    Kats Posten ganz am Ende des höhlenartigen Raumes war die letzte Zwischenstation, bevor die Gefangenen in die Mammutkäfige im Hauptgebäude gelangten. Hier unterwarf man sie der letzten Demütigung, beraubte sie ihrer eigenen Kleidung und steckte sie in leuchtend orange Overalls und Gummischuhe. Dies war die letzte Hoffnung der Männer auf Freiheit, bevor sie ins unentwirrbare Netz der Militärbürokratie gerieten.
    In Kandahar waren Razzien der Spezialkräfte an der Tagesordnung gewesen, und Kat wusste, was gewöhnlich dabei herauskam. Offiziell ging es darum, die letzten Widerstandszellen auszuheben, doch die Überfälle, die im Schutz der Dunkelheit durchgeführt wurden, machten keine Unterschiede. Oft waren die Gefangenen keine Taliban oder Al-Qaida-Terroristen, sondern glücklose Bauern. Nicht unbedingt gute Menschen, aber auch keine Verbrecher, Väter und Großväter, denen es nur ums Überleben ging. Kat und die anderen Verhörspezialisten sahen sich vor der unmöglichen Aufgabe, die Gefangenen zu sortieren, was aufgrund der Sprachbarrieren umso schwieriger wurde.
    Kat arbeitete sich in stotterndem Paschtunisch durch eine Aufnahmebefragung und versuchte, den zahnlosen alten Mann an ihrem Tisch so weit zu beruhigen, dass er ihr seinen Namen und sein Alter nennen konnte. In diesem Augenblick sah sie Kurtz durch die Menge auf sich zukommen. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen. Nach dem 11. September waren Leute, die Arabisch sprachen, beim Geheimdienst hochgeschätzt, und sie hatte mehr als einmal an Kurtz gedacht, aber nie ernsthaft damit gerechnet, ihm zu begegnen. Nun war er hier und hatte sich überhaupt nicht verändert.
    »Sergeant«, sagte er, blieb vor ihr stehen und deutete eine steife Verbeugung an. Eine Geste, die Kat nur zu gut aus Monterey kannte. Sie entsprang seiner unbeholfenen Förmlichkeit, die ihn damals hatte verletzlich erscheinen lassen. »Ich glaube, die haben einen arabisch sprechenden Mann in der Medizinschlange.«
    Er hasst mich noch immer, dachte Kat. Fast zehn Jahre waren vergangen, doch er hatte ihr nicht verziehen, dass sie ihn abgewiesen hatte.
    »Hallo, David«, sagte sie und fügte aus Verlegenheit hinzu: »Du siehst gut aus.«
    Kurtz nickte. »Das mit deinem Bruder tut mir leid.«
    Er wusste also Bescheid, hatte schon vorher gewusst, dass sie auf dem Stützpunkt war. »Mir war nicht klar, dass ich eine Berühmtheit bin.«
    »Ich war heute Morgen bei Major Greeleys Besprechung«, erklärte Kurtz. »Er betrachtet es als Ehre, dich dabeizuhaben.«
    Durch die anderen Verhörspezialisten hatte Kat von den täglichen Besprechungen des Majors gehört, die er stets mit einem aufgezeichneten Nachruf auf ein Opfer des 11. September eröffnete.
    Kat erhob sich vom Stuhl und warf einen Blick auf den jungen Militärpolizisten. »Besorgen Sie ihm etwas zu trinken«, sagte sie mit einer Geste zu dem alten Mann. Und dann an Kurtz gewandt: »Er spricht Arabisch?«
    Die medizinische Untersuchung folgte unmittelbar auf den traumatischen Beginn, bei dem man ihnen die Kleider vom Leib schnitt, und wurde gemeinhin als Sicherheitsmaßnahme deklariert. Man wolle vermeiden, dass Waffen oder ansteckende Krankheiten in die Einrichtung gelangten. Die Gefangenen und Verhörleute wussten allerdings nur zu gut, dass die Untersuchung in Wahrheit dazu diente, die Machtverhältnisse aufzuzeigen, den Pakt von Macht und Ohnmacht zwischen Wärter und Häftling zu zementieren.
    Normalerweise hielt sich Kat von diesem Bereich fern. Sie fand die Verletzlichkeit der männlichen Körper beunruhigend und wollte nicht, dass ihre Verhöre von solchen Gefühlen beeinflusst wurden. Als sie und Kurtz sich näherten, bedeckten die wenigen Gefangenen, die noch entblößt dastanden,

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