Verschärftes Verhör
über die Schulter blickte. »Raus mit dir«, knurrte er, wobei er Jamal mit schnellem, geübtem Blick taxierte. Die Ware war zu alt oder zu abgenutzt für seine Zwecke. Als Jamal sich nicht rührte, fragte er: »Wofür hältst du das hier? Eine Arbeitsvermittlung?«
Jamal neigte kaum merklich den Kopf, da er genau wusste, wie viel von dieser vollkommenen Geste der Ergebenheit abhing. Eine Pantomime, erfüllt von Angst und Begehren. Mein Kind, konnte er Abdullah sagen hören, mein Liebling. Heißer Atem, heiße Lippen an seinem Hals. Ich tue dir doch nicht weh, oder?
Einen Moment lang zeigte Abdullah keine Regung, und Jamal glaubte schon, der Mann könne sich nicht an ihn erinnern. Dann aber rutschte die Schildkröte auf ihrem Hocker herum und beugte sich vor.
»Jamal?«, keuchte er. Seine Augen waren feucht vor Gier.
9
Bagram, Afghanistan 2002
Die Gefangenen kamen blind und verwirrt herein, sie schlurften mit gefesselten Füßen vorwärts. Nackt wie Neugeborene, manche jammernd, andere hatten sich selbst beschmutzt. Keine Männer, sondern Vieh, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Kat wusste aus Erfahrung, dass die ersten Augenblicke der Verwirrung ihr bester Verbündeter waren. Hatten die Gefangenen erst einmal den Schock der Aufnahme überstanden, die Durchsuchung sämtlicher Körperöffnungen, Haarschnitt und Entlausung, und begriffen, dass man ihnen nichts Schlimmeres antun würde, wurden sie trotzig wie Zweijährige. Wer nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden zusammenbrach, tat es gewöhnlich nie. Wer redete, hatte meist am wenigsten zu sagen.
Kat und die übrigen Verhörspezialisten waren nach einem Programm ausgebildet worden, das noch aus dem Kalten Krieg stammte und von einem großflächigen Konflikt zwischen beiden Supermächten ausging. Man nahm an, dass die meisten Gefangenen ihr Wissen nur zu gern preisgeben würden, sofern man sie mit einem Päckchen Marlboro und einer Dose Cola belohnte. Niemand hatte sie auf diese Art Krieg vorbereitet. Niemand hatte sich diese Situation im Entferntesten ausgemalt.
In Kandahar wurden Aufnahme und Verhöre streng nach Vorschrift durchgeführt. Man benutzte dieselben veralteten Ansätze, die man Kat und ihren Kollegen eingebläut hatte. Klassiker wie »Angstmachen« oder »Kameradenliebe«, die in Probeverhören stets funktionierten und auch bei unzufriedenen Sowjetsoldaten gewirkt haben mochten, in Afghanistan aber vollkommen nutzlos waren. Die wenigen Abweichungen, die sich die Verhörspezialisten gestatteten – darunter die Entscheidung, Gefangene wach zu halten, während sie selbst Nachtschicht schoben und Lageberichte schrieben – erforderten einen langen und mühseligen Entscheidungsprozess.
Als Kat an ihrem zweiten Tag in Bagram den Dienst antrat, erkannte sie schnell, dass dieser Stützpunkt eine völlig andere Welt bildete. Die Gefangenen waren härter, zorniger und weniger kooperativ als alle, denen sie in Kandahar begegnet war. Unter den Verhörenden herrschte eine unterschwellige Feindseligkeit, eine Rücksichtslosigkeit, die Kat nie zuvor erlebt hatte. Eine Bereitschaft, die Regeln nicht nur zurechtzubiegen, sondern zu brechen.
»Hier läuft das Spiel ganz anders«, hatte ein ehemaliger Teamkollege aus Kandahar gesagt, als sie einander am Vorabend im Kasino begegneten. »Es dauert ein bisschen, bis man sich daran gewöhnt hat, aber dann tut es gut, das Heft in der Hand zu haben.«
Diese veränderte Haltung war nicht der einzige Unterschied. In Kandahar hatte es nur wenige Zivilisten gegeben, Geheimdienstleute, die von irgendwelchen anderen Regierungsbehörden kamen und sich meist in ihren engen, improvisierten Büros im alten Terminalgebäude aufhielten. In Bagram wimmelte es von ihnen, und sie kamen auch in die Aufnahmestation.
Die meisten dieser Zivilisten gehörten zur Buchstabensuppe der Geheimdienstwelt – CIA, FBI oder deren ausländischen Entsprechungen. Andere wiederum konnte man nicht so leicht einordnen, und das Militär bezahlte für ihre Dienste.
Derartige Arrangements waren nicht weiter ungewöhnlich. Ein großer Teil der nichtmilitärischen Mitarbeiter, darunter viele Kasino- und Transportarbeiter, waren Zivilisten. Der Gedanke, dass quasi mit Geheimdienstsöldnern gearbeitet wurde, war allerdings beunruhigend, und Kat betrachtete die Praxis mit gemischten Gefühlen. Jedenfalls würde es dauern, bis sie sich mit der Vorstellung vertraut gemacht hatte.
In der Welt da draußen war es ein kühler früher Morgen. Die nackte
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